Im Schraubstock der Rituale: Wenn Zwänge quälen

Und wie man sich Zwangserkrankten gegenüber verhält

Jeden Morgen um 5 Uhr aufzustehen, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, unabhängig davon, ob die Sonne scheint oder nicht, unabhängig davon, ob man Lust hat oder nicht, ja, das kann manchmal schon sehr belastend sein. Man fühlt sich vom Alltag eingeengt, lebt wie unter einem „Zwang“. Man will aber nicht die Kraft oder auch den Mut aufbringen, sich gegen diesen Zwang zu stemmen. Wir nennen es „notwendige Einsicht“, „lästige Pflicht“. Der Alltag lässt einem nicht immer die nötige Bewegungsfreiheit, die man gerne hätte. Manchmal erleben wir Momente in unserem Leben, die wirken wie ein Schraubstock, der uns „in die Pflicht nimmt“.  

Was ist „zwangskrank“?

Allerdings erleben sich viele Menschen in Zwangssituationen völlig anders, wenn man sie im psychologischen oder im medizinischen Sinne als „zwangskrank“ bezeichnen kann, wenn sie unter ihren Zwängen empfindlich leiden und sich von ihnen gequält fühlen. Es sind jene verstandesmäßig kaum oder nicht zu erklärende seelische Steuerungen, die Menschen bei ihrer Entfaltung behindern und nur zu oft so wie eine „Sucht“ auf sie einwirken. Es gibt zum Beispiel den Zwang, sich dauernd die Hände zu waschen, selbst wenn sie absolut sauber ist. Man will sich in allem bis ins Letzte „absichern“. Solche Menschen kontrollieren ständig nach, ob sie die Haustüre auch wirklich abgeschlossen haben, sie brauchen für alles Mögliche und Unmögliche eine Versicherung.  Nicht wenige  Menschen leiden unter diesen zwanghaften Bewegungen, sogenannten „Ticks“, „Marotten“ oder sinnlosen Wiederholungen. Solche Zwänge machen einen müde, krank, lassen einen kaum noch aufatmen und können bis an den Rand der Erschöpfung und der Verzweiflung treiben.

Der Zwangserkrankte ist oft der stetigen Überzeugung, dass ein Unterlassen seines Zwangsverhaltens großes Leid und Schaden über ihn und andere bringen könnte. Insofern werden die Zwangshandlungen wie in einem „Ritus“, wie in einer „magischen Handlung“ ausgeführt, um die bedrohlichen Dinge abzuwehren. Aus Schutz findet ein ständiges Überprüfen statt.

Die Ursache einer Zwangserkrankung ist noch längst nicht befriedigend geklärt. Wahrscheinlich haben Zwänge generell in irgendeiner Weise die Aufgabe, das seelische Gleichgewicht in einem bestimmten Lebenszeitpunkt durch ein ganz besonders aufwendiges und ablenkendes Tun aufrecht zu erhalten, um die dort auftretende Angst besser zu bekämpfen. Der tägliche Umgang mit jemandem, der unter solchen Zwängen leidet, ist sicher kein leichtes Unterfangen, wenn man nicht in den Sog dieses Zwanges mit hinein gezogen werden möchte.

Wie sollten wir uns Zwangserkrankten gegenüber verhalten?

  • Wer den Verdacht hat, dass jemand aus seiner Umgebung an Zwängen leidet, der sollte ihn daraufhin vertrauensvoll ansprechen, denn in der Regel spricht der Kranke selber nicht gern darüber. Wir sollten aber dann nicht in Panik verfallen oder hinter einem Zwangskranken her spionieren. Wer unter Zwängen leidet, ist krank, und deswegen braucht man sich auch nicht zu schämen.
  • Wir brauchen nicht gleich immer nach einer „Ursache“ zu suchen oder zu fragen, wer oder was hier „schuld“ daran ist. Zwänge haben sehr viele Ursachen, es muss nicht jeder Zwangskranke auch immer etwas „falsch“ machen. Es macht auch absolut keinen Sinn, den Kranken aufzufordern, sich zusammenzureißen, den Verstand zu gebrauchen, die „Sache“ doch einmal logisch zu sehen oder sich einfach abzulenken. All dies löst die Zwänge nicht. Wenn der Kranke seine Zwänge weiterhin hartnäckig verfolgt, sollten wir darin keine Undankbarkeit uns gegenüber sehen oder ein Zeichen dafür, dass die Beziehung des Kranken zu uns sich dadurch verschlechtert.
  • Es ist auch nicht hilfreich, den Kranken ständig zu fragen, was denn eigentlich in ihm vorgeht. Er weiß es ja selber nicht, kommt sich sehr oft  „schrecklich“ vor und meint, er werde noch „verrückt“. Das heißt: Nicht über die Zwänge logisch diskutieren! Der Kranke erlebt die Dinge immer anders als wir. Wir sollten uns aber auch nicht selber deshalb schlecht vorkommen, wenn hier unser „normaler Menschenverstand“ versagt.
  • Wir sollten den Kranken so wenig wie möglich belasten! Wir brauchen uns aber auch nicht unnötig in sein enges Zwangssystem „miteinzwängen“ zu lassen. Dinge, die wir nicht tun wollen, sollten wir auch weiterhin nicht tun. Wenn der Kranke immer seine Hände waschen muss, wenn er etwa eine Türklinke angefasst hat, dann sollten wir nicht gerade mit schmutzigen Fingern die Türklinke anfassen. Sein zwanghaftes Händewaschen sollten wir aber nicht mitmachen, auch nicht aus falsch verstandenem Mitgefühl ihm gegenüber. Der Kranke muss auch die Grenzen von außen spüren, um eine Motivation zur Veränderung zu entwickeln.
  • Wir dürfen den Kranken auf keinen Fall verraten und ohne sein Wissen und Wollen mit anderen über seine Zwänge reden.
  • Sich von den Zwängen des Kranken nicht anstecken zu lassen, ist oft sehr schwer. Wir können und sollten aber nicht eine therapeutische Rolle übernehmen wollen, wir können ihm nur eindringlich nahelegen, fachliche, medizinisch-therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
  • Noch bis vor einigen Jahren schien die Therapie von Zwangserkrankungen ein nur wenig erfolgversprechendes Unterfangen zu sein. Dies hat sich jedoch inzwischen maßgeblich geändert, denn im Bereich der Psychotherapie sind verhaltenstherapeutische Methoden entwickelt worden, die oftmals bereits innerhalb von Monaten zu einer nachhaltigen Verbesserung führen können. Auch eine mittlerweile weiter entwickelte medikamentöse Unterstützung lässt sich mit der eines Schwimmreifens beim Schwimmenlernen vergleichen. Dieser ist zum Erlernen nicht unbedingt nötig, er hilft jedoch, die Angst vor dem Wasser zu überwinden. Psychopharmaka sollen und können eine Psychotherapie nur unterstützen, nie ersetzen.

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de