„Eine Sprache, die sagt, was jetzt in mir lebendig ist.“

Im Gespräch mit Gottfried Orth über die Gewaltfreie Komunikation (GFK)

Gottfried Orth, Jahrgang 1952, hat Theologie, Philosophie und Soziologie studiert. Er arbeitete als Gemeindepfarrer sowie als Lehrer an verschiedenen Schulen. Von 1998 bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig. Er bietet GFK-Trainings an für pädagogische Berufe, für Pfarrer:innen und kirchliche Mitarbeiter:innen sowie im Rahmen der Hospizarbeit. Bekanntheit erlangte er im deutschsprachigen Raum auch durch seine zahlreichen Bücher, unter anderem „Friedensarbeit mit der Bibel“ und „Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden“.

Herr Orth, was bedeutet die Gewaltfreie Komunikation (GFK) für Sie?

Ich habe die GFK vor 12 Jahren kennen gelernt und bin nach wie vor fasziniert davon, eine Sprachform gefunden zu haben, die mir zeigt, ja so könnte das gehen: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ oder: „Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst.“ Ich bin Pfarrerskind, in den 1950er Jahren erzogen. Nächstenliebe war das beherrschende Thema zuhause. Und Selbstliebe kam nicht vor. Gefühle waren Gefühlsduseleien, daher auch völlig unwichtig, genauso wie Bedürfnisse, die durfte man nicht haben. Als ich die GFK kennen gelernt habe, dachte ich: „Ja genau. Der zweite Teil – wie dich selbst – der hat eigentlich immer gefehlt.“ Von daher war das für mich auch ein Befreiungsvorgang und ein Prozess, der meine Theologie nochmal sehr verändert hat.

Inwiefern?

Dass eine persönliche Veränderung gekoppelt ist mit einem spirituellen Ansatz und mit Gesellschaftsveränderung. Marshall B. Rosenberg wurde nicht müde zu sagen: „social change“, das ist das Ziel. Nicht nur anders miteinander umgehen, sondern wir müssen Bedingungen schaffen, in denen es selbstverständlich werden kann, dass wir klar und liebevoll miteinander kommunizieren.

Kann die GFK eine Art „Gamechanger“ sein, in Bezug auf die christliche Gemeinschaft, für die Kirche?

Ich nehme in unseren Kirchengemeinden eine große Sehnsucht nach spirituellen Lebensformen wahr. Aber die Menschen trauen es den großen Kirchen nicht mehr zu, dass sie da etwas finden, was für sie relevant und wichtig ist. Weil sie Kirche oft erfahren haben als Institution, die ihnen sagt, was richtig und was falsch ist. Und weil sie Kirche erfahren als etwas, das wenig mit ihrem Alltag zu tun hat. Wenn wir in Kirchengemeinden eine Gruppe anbieten mit GFK, also die Leute kommen mal so zum Schnuppern, … das ist, neben dem Thema „Kommunikation“, ein Türöffner auch zu ganz anderen Fragen. Wir reden auf einmal über Glauben. Die Menschen brauchen Spiritualität, um ihren Alltag zu gestalten. Es gibt diesen schönen Satz von Thomas Merton: „Die ganze Idee des Mitgefühls basiert auf einer leidenschaftlichen Achtsamkeit für die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen.“ Und dafür brauche ich eine Ausdrucksform. Eine, die sich nicht an irgendwelchen Formeln festmacht oder an irgendwelchen Autoritäten. Sondern die mir ermöglicht, zu sagen, was jetzt in mir lebendig ist. Das ist, glaube ich, die große Chance der GFK. Von Albert Schweitzer gibt es den schönen Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ – um die Kommunikation dessen geht es!

Im neuen Testament gibt es einige Szenen, in denen Jesus ganz unterschiedlichen Menschen begegnet. Manche dieser Geschichten muten vom Ablauf her fast „GFK-mäßig“ an. Können Sie das bestätigen und ein Beispiel nennen?

Gottfried Orth: Geschichten, in denen Jesus als GFK-Lehrer (lacht) erscheint. Der blinde Bartimäus zum Beispiel. Der schreit da am Wegesrand, die Jünger wollen ihn zum Schweigen bringen, der schreit aber weiter. Und Jesus kommt auf ihn zu. Der Jesus, der alles weiß, der alles kann, der eigentlich sofort wissen müsste, was dieser blinde Bartimäus jetzt will, nämlich geheilt werden. Was macht er? Er überfällt ihn nicht mit einem Wunder, sondern er fragt ihn „Was willst du, das ich dir tue?“ Er achtet die Autonomie dieses blinden Mannes, wenn er sagt „Der soll sagen dürfen, was er von mir will. Ich möchte ihn nicht ignorieren. Ihn aber auch nicht vereinnahmen mit meinem Wunder. Sondern ich will, dass er mir sagt, was ich tun soll.“ Das finde ich spannend.

Dann die Zachäus-Geschichte: Zachäus sitzt auf dem Baum, das war ja wirklich ein Gauner. Er hat sich auf die Seite der Römer gestellt, der Machthaber. Hat die eigenen Leute finanziell ausgebeutet und ausgepresst. Und was macht Jesus? Der sagt „Ich will dich heute besuchen.“ Er sagt nicht: „Du bist ein Gauner“. Er legt ihn nicht fest auf diese Rolle als Zöllner. Sondern er geht in sein Haus, setzt sich mit ihm zu Tisch und eröffnet damit einen Raum, in dem Zachäus sich ändern kann. Ich glaube, wir können nicht mehr tun als Räume zu öffnen, in denen Menschen anders, neu werden können. Wir können niemanden verändern. Mich selber zu verändern ist schwer genug. Das weiß jeder. Und den anderen können wir nicht verändern. Wenn man so, mit dieser GFK-Brille, die Bibel liest, dann verändern sich die Geschichten nochmal. Das finde ich ausgesprochen spannend.

Das sich neu auf diese Geschichten einlassen hat auch etwas mit Achtsamkeit zu tun …

Gottfried Orth: Ja, und mit dem Sich-Einlassen auf neue Erfahrungen. Diese Geschichten sind Spielmaterial, weil sie mir zeigen wollen, was gutes Leben ist oder was erfülltes Leben ist. Also lasst uns damit anfangen zu spielen. In der Vorbereitung auf dieses Interview habe ich einen Satz von Ernesto Cardenal gelesen. „Gott wollte einen fröhlichen Planeten mit Kunst, Poesie und Frieden.“ Das ist Theologie, darum geht es. Was habe ich eigentlich für eine Vision von Welt? Eine solche Theologie brauchen wir heute. Sätze, die anfangen mit „Ich habe einen Traum“ und nicht Sätze, die anfangen mit „Wie schrecklich ist alles“.

An den Traum möchte ich gerne anknüpfen: Würden Sie sagen, dass die Haltung der GFK den notwendigen gesellschaftlichen Wandel bewirken kann um zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung zu kommen?

Gottfried Orth: Achtsamkeit oder Wertschätzung gegenüber Menschen, beides zentrale Begriffe der GFK, warum sollen die bei Menschen aufhören? Wenn ich achtsam meinen Mitmenschen begegne, warum soll ich nicht auch achtsam Pflanzen oder Tieren begegnen? Bernard von Clairvaux schrieb an Papst Eugen: „Wenn du böse mit dir umgehst, wie sollst du mit anderen gut umgehen? Also achte auf dich.“ Wenn ich mir die Zisterzienser anschaue und ihren Umgang mit Natur, das wäre so ein Beispiel, das deutlich macht, wie zentrale Begriffe von GFK, Wertschätzung und Achtsamkeit oder Liebe, weiterreichen über die Menschen hinaus.

Was sind in Ihren Augen die häufigsten Irrtümer über die GFK, gerade im christlichen Kontext?

Gottfried Orth: Es wird oft gesagt, GFK sei eine Art Religionsersatz. Das, glaube ich, ist überhaupt nicht der Fall. Dazu war Rosenberg viel zu sehr beheimatet in seiner jüdischen und jüdisch-christlichen Tradition. Er hat selber so einen Mix gelebt zwischen jüdisch-christlichen und buddhistischen Traditionen. Zusammenfassend hat er mal gesagt: „Das was ich hier als GFK entdecke und entfalte oder lebe und lehre: Das ist das, was ich von meiner Großmutter gelernt habe über Jesus.“ Also auf keinen Fall Religionsersatz.

Dann gibt es noch den schwerer wiegenden Vorwurf, GFK sei ein Selbsterlösungsinstrument. Ich habe lange darüber nachgedacht. Warum soll Selbsterlösung schlecht sein? Also wenn ich mich mithilfe anderer Menschen aus Verstrickungen lösen kann. Nehme ich dann dem lieben Herrn Jesus etwas weg? Das ist mir überhaupt nicht einsichtig. Erst Recht, wenn ich das weitergeben kann an andere Menschen. „Leute, wir können etwas tun!“ Uns aus Verstrickungen lösen. Dass wir das Heil auf dieser Welt nicht schaffen können, das wissen wir. Aber wir können dem näher kommen. Und dazu sind wir als Christenmenschen da.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Orth!

Gottfried Orth: Sehr gerne.

Interview: Christian Schmitt, In: Pfarrbriefservice.de

Kontaktadresse Gottfried Orth: g.orth@tu-bs.de

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Christian Schmitt

Gottfried Orth, Jahrgang 1952, hat Theologie, Philosophie und Soziologie studiert. Er arbeitete als Gemeindepfarrer sowie als Lehrer an verschiedenen Schulen. Von 1998 bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig.

Einführung in Gewaltfreie Kommunikation mit christlich-theologischen Bezügen

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Christian Schmitt

Der evangelische Theologe, Pädagoge und Pfarrer Prof. em. Dr. Gottfried Orth legt mit seinem Buch „Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden“ eine Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg vor.

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Das Schwerpunktthema für Dezember 2022

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Text: Christian Schmitt
In: Pfarrbriefservice.de