„Die Tradition der Sorge um Soziale Gerechtigkeit ist ganz stark in der katholischen Kirche“

Ein Interview mit Prof. Dr. Michelle Becka

Eine Kirche, die sich für Soziale Gerechtigkeit einsetzt. Realität oder Wunschvorstellung? Prof. Dr. Michelle Becka ist Professorin für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Im Interview spricht sie darüber, warum Papst Leo XIII. die Soziale Gerechtigkeit der Kirche noch heute prägt, warum katholische Hilfswerke darauf ausgelegt sind, sich überflüssig zu machen und wie Papst Franziskus Soziale Gerechtigkeit komplett neu definiert.  

Der Staat, Nichtregierungsorganisationen, Privatpersonen. Viele setzen sich für Soziale Gerechtigkeit ein. Was tut die Kirche? Es ist eigentlich ihr Kernthema.

Prof. Dr. Becka: In der kirchlichen Praxis passiert das, wenn sich Papst Franziskus zu Fragen der Sozialen Ungerechtigkeit äußert. Wenn indigene Völker nicht zu ihrem Recht kommen. Wenn Migranten, Migrantinnen nicht zu ihrem Recht kommen. Wenn Güter ungerecht verteilt sind. Da ist die Soziale Frage immer präsent.

War das immer so?

Die Kirche hat, mit Entdeckung der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert, angefangen, sich zu sozialen Fragen politisch zu äußern. Auch, wenn das damals nicht Soziale Gerechtigkeit hieß, ging es genau darum.

Papst Leo XIII. verfasste dazu 1891 die erste Sozialenzyklika. Ihr Titel "Rerum novarum" – "Von den neuen Dingen".

Die neuen Dinge waren die Ungerechtigkeiten, die für die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Städten entstanden sind. Die Kirche hat erkannt, dass sie den Menschen mit pastoralen Angeboten oder mit einer veränderten Seelsorge allein nicht helfen kann. Es war eine wichtige Einsicht zu erkennen, dass es ungerecht ist, dass sie nicht genug Lohn bekommen, dass sie schlechte Arbeitsbedingungen haben, dass sie keine Sicherheiten oder Versicherungsmöglichkeiten haben. Deshalb hat sich die Kirche um diese Belange gekümmert. Die Kirche hat sich entschieden, sich politisch stärker für Veränderungen einzusetzen. Damit ist diese Sorge um die Soziale Gerechtigkeit in der Vergangenheit entstanden. Seitdem gibt es diese Tradition und die ist ganz stark in der katholischen Kirche. Es ist das, was man die katholische Soziallehre nennt. Und die Sozialethik reflektiert diese Fragen und begleitet die Sozialverkündigung kritisch.

Die industrielle Revolution liegt fast 200 Jahre zurück. Die Sozialenzyklika von damals hilft den Menschen heute nicht mehr. Die Gesellschaft hat sich geändert, die Wirtschaft, die Gesetze. Jede Zeit hat ihre Probleme und ihre Fragen.

Die Tradition der Sozialenzykliken hat mit Papst Leo XIII. begonnen. Seine war die erste, die verschiedene Pontifikate führten die Tradition weiter. Während es zu Beginn alleine um die nationalen Gesellschaften ging, hat die Kirche in ihren Sozialenzykliken in der Nachkriegszeit, spätestens 1963 mit der Sozialenzyklika „Pacem in Terris“, immer stärker weltweite Fragen in den Blick genommen. In den 70er Jahren waren es entwicklungspolitische Fragen. Später Globalisierungsfragen. Bekannt ist die Sozialenzyklika „Laudato si´“ von Papst Franzikus von 2015.

Was ist das außergewöhnliche, das besondere an dieser Sozialenzyklika?

Daran ist spannend, dass wir Soziale Gerechtigkeit heute nicht ohne die Gerechtigkeit gegenüber der nichtmenschlichen Umwelt behandeln können. Egal, ob das die Klimafrage ist oder der Naturschutz. Wir dürfen die sozialen Fragen und die Umweltfragen nicht gegeneinander ausspielen. Das Soziale, das die Interaktion zwischen Menschen meint, wurde auf den nichtmenschlichen Bereich ausgedehnt. Das hat Franziskus deutlich gemacht.

„Es ist wichtiger, etwas im Kleinen zu tun, als im Großen darüber zu reden“, sagte Willy Brandt einmal. Mit theoretischen Schriften ist es nicht getan. Es braucht eine Kirche, die sich aktiv, im praktischen Tun für Soziale Gerechtigkeit einsetzt.

Das wird in verschiedener Weise getan. Wir haben etwa die kirchlichen Hilfswerke. Sie wollen sich nicht als Hilfe verstehen, sondern als Institutionen, die sich um Solidarität und damit um Soziale Gerechtigkeit bemühen, denn es geht nicht nur darum Menschen in Not direkt zu helfen. Kern des Ringens um Gerechtigkeit ist: auf Veränderung hinzuwirken oder gegen soziale Ungerechtigkeit anzugehen. Es soll Strukturen geben, die für alle Menschen gerechter sind, damit diese Hilfe der Hilfswerke nicht mehr notwendig wäre.

Fünf große Hilfswerke gibt es in der Katholischen Kirche in Deutschland. Zusammengefasst heißen sie „MARMICK“.

Da kommen die Anfangsbuchstaben aller Werke zusammen: Misereor, Adveniat, Renovabis, Missio, Caritas international und das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“. Diese Hilfswerke haben untereinander eine Arbeitsteilung. Die einen sind eher pastoral, die anderen eher entwicklungspolitisch ausgerichtet. Sie sind nach verschiedenen Regionen unterteilt.

Auf Wikipedia sind zudem 94 Katholische Verbände gelistet.

Wir haben in der katholischen Kirche eine wichtige Verbandslandschaft. Es gibt viele Verbände. Zum Beispiel die Kolpingbewegung. Die setzt sich weltweit für soziale Projekte ein.

Aber auch in Deutschland gibt es viele Menschen, die von Sozialer Ungerechtigkeit betroffen sind. Was tut die Kirche für die Menschen hier vor Ort?

Es gibt zum Beispiel Bewegungen, wie die „Katholische Arbeiternehmer Bewegung“ (KAB). Sie sind wichtig, weil sie sich dafür einsetzt, dass das für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen möglich ist. Sie solidarisieren sich mit den Menschen an der Stelle, an der sie nicht zu ihren Rechten kommen und wirken so auf mehr Gerechtigkeit hin. Bei der Sozialen Gerechtigkeit in Bezug auf die Gesellschaft hier in unserer Bundesrepublik geht es um die Frage: Wie kann man allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, wo sie sich selbst in guten Beziehungen mit anderen realisieren können? Das braucht Freiheit und das braucht materielle Grundlagen.

Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ronja Goj
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