Zuhören verändert meine Sicht

Erfahrungen mit einem Gespräch nach einem Jahr Funkstille

Endlich gebe ich mir einen Ruck und rufe meine alte Freundin an. Ein Jahr lang war Funkstille, ich war verwirrt über ihre Ansichten zu Corona. Jetzt bin ich entschlossen, ihr einfach zuzuhören und nicht zu widersprechen. Sie kommt schnell auf das Thema Corona zu sprechen: Die Impfung gegen Corona bezeichnet sie als unausgegorene „Experimentalspritze“, an der sich die Pharmaindustrie bereichert. Politiker sind ihrer Ansicht nach alle korrupt, sie haben kein Recht über ihren Körper zu verfügen, die Presse stecke mit den Politikern unter einer Decke und berichte tendenziell. Corona –  vor allem Omikron – sei ein harmloser Schnupfen. Während wir telefonieren, ist meine Freundin auf dem Weg zur Beerdigung einer Freundin, die vermutlich an den Folgen der Impfung gestorben ist. Sie sagt, sie kenne niemanden, der an Corona gestorben sei, wohl aber Menschen, die von der Impfung geschädigt seien.

Ich höre zu. Schweige. Versuche meine Gegenrede zurückzuhalten. Fühle mich wie ein naives, dumm-gutgläubiges Kind, das glaubt, dass „die da oben“ es schon richtig machen, gut informiert sind und einschätzen können, was nötig ist.

Ich erzähle ihr, dass ich mich schwer tue mit ihren Ansichten, sie bezweifle. Dass ich sie als alte Freundin aber sehr schätze und den Kontakt nicht abbrechen will. Dass ich mitbekomme, wie Freundschaften an diesen unterschiedlichen Positionen zerbrechen, Risse durch Familien gehen …

Erleichtert und ein bisschen verwirrt

Sie sagt, „niemals wird eine meiner Freundschaften wegen unterschiedlicher Ansichten zerbrechen. Wir können streiten, aber die Freundschaft bleibt.“ Sie lacht ihr fröhliches, humorvolles Lachen, das ich so liebe. Und das Verkrampfte ist wie weggeblasen. Nach dem Gespräch bin ich erleichtert, aber immer noch ein bisschen verwirrt.

Anschließend gehe ich in die Stadt und sehe plötzlich die Welt mit ihren Augen: welcher Wahnsinn! Überall Kontrollen, 2G-Regeln, die Ungeimpfte ausschließen. Ich denke an die Schüler, die im Homeschooling sind, die berufstätigen Eltern, die sich neben ihrer Arbeit noch um den Unterricht ihrer Kinder kümmern müssen – was für ein unglaublicher Mehraufwand! Ich sehe die Situation mit den Augen meiner Freundin und fühle mich wie im Orwellschen Überwachungsstaat. Ungeimpfte sind vom Großteil des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, meine Freundin kann zur Beerdigung ihrer Freundin in Frankreich nur mit einer Sondergenehmigung mit dem Zug fahren, sonst muss sie als Ungeimpfte für größere Strecken das Auto nehmen.

Das Mich-Hineinversetzen in die Gedankenwelt meiner Freundin hat etwas in mir verändert. Die Angst, dass unsere Freundschaft zerbrechen könnte, ist verflogen. Es tat mir gut, für ein paar Stunden die Welt mit ihren Augen zu sehen. Auch wenn ich am Tag danach die Welt wieder aus dem alten Blickwinkel sehe: Ich bin froh, dass mittlerweile so viele Menschen geimpft sind und das grauenhafte Sterben auf den Intensivstationen weniger wird. Bin dankbar, dass meine alte Mutter und ich geimpft sind, und ich sie ohne Angst besuchen kann.

Autor/Autorin anonym
Quelle: www.ziemlichbestegeschichten.at, In: Pfarrbriefservice.de

Die österreichische Akademie für Dialog und Evangelisation sammelt unter ziemlichbestegeschichten.at Berichte, die von Gesprächen trotz aller Unterschiede erzählen. Herausragende Geschichten werden vom Bestseller-Autor von „Ziemlich beste Freunde“, Philippe Pozzo di Borgo, prämiert.

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Das Schwerpunktthema für August/September 2022

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Text: Autor/Autorin anonym, Quelle: www.ziemlichbestegeschichten.at
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