„Weil du ein freier Mensch bist …“

Wie die Zehn Gebote als Regeln für eine gute Gemeinschaft taugen – ein Interview

In der Verkündung der Zehn Gebote erlebt das Volk Israel eine Premiere: Gott selbst spricht sie am Gottesberg Sinai zu seinem Volk. Aber nicht in der kurzen Form, wie man die Zehn Gebote eben so kennt. Gott erläutert, begründet und motiviert. Vor allem aber stellt er sie in den Zusammenhang seiner Befreiung des Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten. Darum zu wissen, ist Sarah Fischer wichtig, um zu verstehen, was die Zehn Gebote für Menschen heute bedeuten können. Sarah Fischer ist promovierte Alttestamentlerin und arbeitet als Religionslehrerin an einem Gymnasium in Thüringen.

Was sind die Zehn Gebote für Sie?

Sarah Fischer: Vielleicht gleich zu Beginn: Ich bin kein Mensch, der gut mit Autoritäten klarkommt, und erst recht niemand, der Verbote unhinterfragt hinnimmt. Aber in diesen Bereich gehören die Zehn Gebote für mich gerade nicht. Sie sind Lebensgrundlage, nämlich eine Grundlage, die erst Leben ermöglicht.

Viele Theologen deuten die Zehn Gebote auch als Wegweiser für die Freiheit. Aber sie sind vor allem als Verbote formuliert. Wie passt das zusammen?

Sarah Fischer: Wir haben die Zehn Gebote zwei Mal im Alten Testament überliefert, nämlich in Exodus, Kapitel 20, und Deuteronomium, Kapitel 5. Die Texte bestehen keineswegs aus zehn losgelösten Verbotssätzen im Sinne von ‚Tu dies nicht, tu das nicht’. Es gibt neben den Geboten, wie die Eltern zu ehren oder den Sabbat zu halten, ganz lange Satzgebilde mit Erläuterungen, Begründungen oder Motivationen. Und es gibt eben auch die ganz kurzen, objektlosen Verbote. Die bestehen im Hebräischen nur aus zwei Worten. ‚Nicht stehlen’, zum Beispiel. Wir übersetzen: ‚Du sollst nicht stehlen’.
Wichtig ist aber auch zu wissen, dass es sich nicht um Rechtsvorschriften handelt. Die sind ganz anders konstruiert im Alten Testament. Es geht bei den Zehn Geboten vielmehr um Ethos und Gesinnung, also um allgemeine Verhaltensregeln, die letztlich das Leben in der Gemeinschaft ordnen, strukturieren und gelingen lassen. Sie ermöglichen Freiheit. Und die Freiheit eines jeden Einzelnen endet nun einmal genau dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Eine aktuelle Fragestellung.

Welche Erfahrungen machen Sie mit den Zehn Geboten im Religionsunterricht?

Sarah Fischer: Die Zehn Gebote sind in Thüringen Thema in der Mittelstufe. Da sind die Jugendlichen in einem Alter, in dem man eher gegen Gebote und Regeln aufbegehrt. Interessanterweise funktionieren die Zehn Gebote aber erstaunlich gut, und zwar dann, wenn man sie nicht als Verbote erklärt, sondern wenn man den Sinn der Gebote vermittelt und ihren Aktualitätsbezug aufzeigt. Kinder wollen sich in diesem Alter in eine Gemeinschaft einfügen und ein wichtiges Mitglied sein. Da sind Regeln einfach notwendig. Das merken sie auch selbst.

Laut Bibel erhielt Mose die Zehn Gebote von Gott auf dem Berg Sinai – die Wissenschaft dagegen sagt, dass es ein jahrhundertelanger Entstehungsprozess war. Was stimmt?

Sarah Fischer: Mose kommt mit den Tafeln vom Berg marschiert und streckt sie theatralisch in die Höhe. Dieses Bild hat sich durch die Rezeptionsgeschichte und Ikonografie in die Köpfe gebrannt. Aber ich möchte an dieser Stelle als Alttestamentlerin noch einmal nachjustieren – im Sinne des Textes. Gott übergibt laut Bibel eben gerade nicht Mose als Mittler die Gebote, sondern richtet sein Wort direkt an das Volk Israel!
Der sogenannte Dekalog erscheint in Exodus 20 als erstes Gotteswort am Sinai und als einziges, welches das Volk ohne den Mittler Mose aus Gottes Mund unmittelbar vernimmt. In Deuteronomium 5 erinnert Mose daran noch einmal. Damit sind die Zehn Gebote im Alten Testament herausgehoben. Dies können wir sehen, wenn wir allein auf der Textebene bleiben.
Dass der biblische Text historisch gewachsen ist und ein Spiegel des Volkes Israel, das hier seine Erfahrungen mit seinem Gott, aber auch seiner altorientalischen Umwelt kunstvoll verarbeitet, sollte beim Lesen bewusst sein. Die Forschung geht davon aus, dass der Dekalog Anklänge an die altorientalische Weisheitsliteratur hat. Es geht um allgemeine Verhaltensregeln, um Lebenskunst.

Also sind die Zehn Gebote nur Worte, ausgedacht und konstruiert von Menschen?

Sarah Fischer: Nein, das wäre absolut falsch verstanden. Gott ist da nicht raus. Es geht um eindrückliche Urerfahrungen, die das Volk Israel mit Gott gemacht hat. Diese verarbeiten die Autoren und Redakteure der biblischen Texte, zusammen mit den Erfahrungen in ihrem Umfeld. Das kann man sich durchaus als Diskussionsprozess vorstellen. Was wird schriftlich festgehalten und wie? Dann kamen später noch mal Bearbeitungen hinzu.

Sie sagen, Gott wendet sich mit seinen Geboten unmittelbar ans Volk, und das auch nur ein einziges Mal. Warum ist das wichtig?

Sarah Fischer: Ein einziges Mal in den Erzählungen am Gottesberg Sinai. Das scheint dem Schreiber oder den Schreibern wichtig zu sein. Diese Zehn Gebote scheinen so relevant und wichtig zu sein, dass man hier den Mittler weglässt und sagt: Nein, die müssen direkt und unmittelbar von Gott für das Volk sein.

Was ist die Basis, auf der die Zehn Gebote stehen?

Sarah Fischer: Die Basis ist der Prolog, das Kopfstück. Im Prolog stellt sich Gott als Befreier aus der ägyptischen Knechtschaft vor, der sich damit als der Gott des angesprochenen Volkes erwiesen hat. Diese gewährte Freiheit kann nur in der Beziehung zum Befreier bewahrt werden. Und diese Beziehung vollzieht sich in der Erfüllung der Gebote. Deshalb macht es Sinn, vor jedem Einzelgebot mit seinem ‚Du sollst (nicht)!’ den Prolog mitzudenken: ‚Weil ich dich befreit habe, weil du ein freier Mensch bist und wir in einer Beziehung leben – Gott und Mensch, deshalb wirst du andere nicht bestehlen, deshalb wirst du andere nicht töten, deswegen wirst du Vater und Mutter ehren.’ Um die Freiheit zu bewahren, die Gott uns geschenkt hat.

Haben Sie ein Lieblingsgebot? Oder ein Gebot, das Sie beständig durchs Leben begleitet?

Sarah Fischer: Mit meinen Anfang 30 habe ich kein Gebot, das mich beständig begleitet. Allerdings finde ich, dass mehrere Gebote derzeit besondere Aufmerksamkeit verdienen könnten. Denken wir an das Verbot zu töten und daran, dass täglich an den Außengrenzen unseres Europas Menschen sterben, dass Menschen aus Seenot nicht gerettet und Boote am Einlaufen in Häfen gehindert werden, dann sehe ich hier eine Verletzung dieses fünften Gebotes, die nicht hinnehmbar ist. Menschen in Lagern sterben zu lassen oder sie dem Tod sehenden Auges auszusetzen – das ist strengstens verboten.
Denken wir außerdem an Stichworte wie Fake News, fällt mir unwillkürlich das 8. Verbot der Lügenaussage ein. Gerade darin liegt für mich die Faszination der Zehn Gebote, ja der biblischen Texte grundsätzlich, dass sie es schaffen, ihre Aktualität zu bewahren in ihrer beispiellosen Mischung aus Konkretion und Offenheit.

Interview: Elfriede Klauer, Pfarrbriefservice.de

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de