Von ganzem Herzen zuhören

Das lohnt sich für den, der zuhört, wie für den, der erzählt

Richtig zuhören ist eine Kunst. Denn richtig zuhören ist mehr als nur immer wieder mal Floskeln wie „aha“, „interessant“ und „was Sie nicht sagen“ einzustreuen. Das ist schon auch wichtig, denn das zeigt dem anderen ja, dass ich aufmerksam bin. Richtig zuhören meint aber mehr: dass ich mich wirklich für mein Gegenüber interessiere. Für sein Leben, das, was er erlebt hat, was ihm wichtig ist, worunter er leidet und worüber er sich freut.

Die Romanfigur „Momo“ von Michael Ende ist das beste Beispiel dafür, worum es geht. Das kleine Mädchen Momo ist ganz Ohr; ungeteilt aufmerksam. Ihr ist ihr Gegenüber so wichtig, dass sie echten Anteil nimmt und bereit ist, ein Stück des Weges mit ihm zu gehen. Wer mit ihr spricht, dem schenkt sie Zeit. Momo berät nicht. Sie gibt keine Tipps oder Ratschläge. Sie hört einfach nur zu. Und dann geschieht das Wunderbare: Wer ratlos oder unentschlossen ist, weiß auf einmal, was er will. Schüchterne werden frei und mutig; Traurige werden froh. Momo hört Menschen ganz begierig zu. Denn sie glaubt fest daran, dass die ihr was geben oder sagen können. Jeder Einzelne. Sie erwartet das förmlich von ihnen und klebt daher neugierig an ihren Lippen. Das macht ihre Gespräche so echt. Dadurch bekommen sie diese Tiefe.

Das Heft aus der Hand geben

Neurobiologen und Psychiater sagen[1], dass sich „richtig zuhören“ etwa so anfühlt, wie wenn ich ins Ungewisse gehe. Denn als echter Zuhörer gebe ich das Heft aus der Hand. Ich bin nicht aktiv, indem ich gezielt Fragen stelle, sondern höre einfach zu, bin ganz Ohr. Die Konsequenz: Ich weiß nicht, was vom anderen kommt, ob es bedeutsam ist oder nicht. Das macht richtig zuhören so schwer! Denn wenn ich passiv bleibe, meine Meinung hinten anstelle und auf Wertungen verzichte, laufe ich Gefahr, Dinge so zu sehen, wie es mein Gegenüber tut. Und das kann mich verändern. Davor haben viele Angst.

Das ist schade, denn richtig zuhören lohnt sich, für den, der zuhört, wie für den, der erzählt. Die Wissenschaftler sagen: Gerade über sich selber zu sprechen, aktiviert dieselben Hirnareale wie Geld auszugeben, zu essen oder mit jemandem zu schlafen. Es befriedigt existenziell. Wem richtig zugehört wird, der fühlt sich ernst genommen und wertgeschätzt; so wie er ist. Ihm wird zugetraut, dass er etwas zu sagen hat, und manches, was ihn beschäftigt, löst sich auf, einfach, weil er darüber spricht. Wer hingegen zuhört, muss sich zurücknehmen, seine Wertungen zügeln und sich öffnen. Er muss still werden und sich konzentrieren. Dadurch bereitet er den Boden für Neues und kann selbst inspiriert werden. Seine Denkmuster brechen auf und er kann innerlich wachsen.

Damit echte Beziehungen wachsen

Auch die Bibel scheint das zu wissen. Jedenfalls lese ich Psalm 88 so, wo der Verfasser sagt: „Neige dein Ohr mir zu. Höre auf mein lautes Flehen.“ Er bittet Gott um ein offenes Ohr, darum, einfach zuzuhören und den Betenden ernstzunehmen. Und wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: „Richtet nicht“ (Mt 7), dann verstehe ich auch das als Aufforderung, anderen richtig zuzuhören – eben ohne sie zu beraten, zu bewerten oder gar abzuwerten. Denn nur so können echte Beziehungen wachsen.

Momo gelingt es, richtig zuzuhören. Manchmal wäre auch ich gerne ein bisschen mehr wie sie. Aber das ist eben nicht so leicht. Gut nur, dass es jeden Tag viele Möglichkeiten gibt, um zu üben, wie das geht: zuhören. Einfach von ganzem Herzen zuhören.

Thomas Macherauch, Bruchsal
Quelle: Katholische Hörfunkarbeit für Deutschlandradio und Deutsche Welle, Bonn, www.katholische-hörfunkarbeit.de, In: Pfarrbriefservice.de
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[1] Vgl. dazu die Hörfunksendung von Frank Schüre: Zuhören – Eine vergessene Kunst? SWR2 Wissen. 19. Oktober 2017.

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Text: Thomas Macherauch, www.katholische-hörfunkarbeit.de
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