Soziales Verhalten macht uns zum Menschen, „unsozial“ wäre es, das eigene „Ich“ dabei zu vernachlässigen

Gleichgewicht zwischen „Ich“ und „Wir“ – Eine Einschätzung von Diplom Psychologe und Theologe Stanislaus Klemm

Was vor über 1700 Jahren einer der berühmtesten Philosophen, der Grieche Aristoteles, seinem Sohn Nikomachos als geistiges Erbe hinterließ, ist gewissermaßen eine der fundamentalsten Grundregeln für ein gelingendes Leben. „Alles, was im Leben einen Wert hat, kann durch ein Zuviel und ein Zuwenig zerstört werden.“ Es geht um das richtige Maß, die Tugend des Gleichgewichts zwischen vielen scheinbaren Gegensätzen, die allerdings in der richtigen Balance zueinander Leben erst gelingen lassen.

Zu den wichtigsten Gegensätzen zählen hier die beiden Pole „Ich“ und „Du“. Nur ein immer wieder neu angestrebtes Gleichgewicht beider Pole zueinander lässt das gelingen, was Glück und Erfolg ausmachen. Die Vernachlässigung eines dieser lebensnotwendigen Bedürfnisse: Eigenwohl und Gemeinwohl führt uns zwangsläufig in eine gefährliche Schieflage und lässt uns am Ende „abstürzen“. Ja, unser Leben ist wie ein Seiltanz. 

Jesus – ein Vorbild

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – Matth 22,39. Diese urchristliche Lebensregel, die nur in dieser Balance richtig gelebt werden kann, stammt von jemandem, der sich wie kaum ein anderer um das Wohl seiner Mitmenschen gesorgt hat: Jesus Christus. Er identifiziert sich mit den alltäglichen und lebensnotwendigen Bedürfnissen seiner Mitmenschen, wenn er sagt: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen“ (Matth 25, 35-36). Diesen alltäglichen Situationen in unserem Leben gilt es nachzugehen und einer Lösung näher zu bringen, wo, wann und wie sie uns ganz konkret, sowohl materiell als auch im übertragenden Sinne, begegnen mögen. 

Für Menschen da sein – aber wie?

Wo treffen wir im Alltag auf Menschen, die nach irgendetwas hungern? Wir helfen ihnen nicht, wenn wir sie dabei „überfüttern“ oder mit Worten abspeisen, die nicht satt machen und deren Verfallsdatum längst überschritten ist. Menschen, die nach der Wahrheit suchen, die nach dem Sinn ihres Lebens buchstäblich dürsten, denen helfen wir nicht mit billigem Trost, hochprozentigen Lügen oder selbstgebrannten Ausreden, anstatt ihnen „reinen Wein einzuschenken“. Menschen, die sich fremd fühlen, wollen von uns keine vorschnelle Verbrüderung oder enges Verbandeln. Sie suchen nach Aufmerksamkeit und Verständnis, das sie wie ein Mantel vor Kälte und Fremdheit schützt. 

Es gibt viele Menschen, die sich nackt fühlen und wir lassen sie im Regen stehen. Wir beschämen sie, wenn wir auf ihren Fehlern herumreiten und lassen sie manchmal ins „offene Messer rennen“. Vielen Menschen begegnen wir im Alltag, die sich krank fühlen, nicht nur körperlich, krank vor Angst, krank vor berechtigtem Zorn. Wir können sie nicht immer „heilen“ oder „therapieren“ wollen. Aber unser Dasein, unser Mitgefühl, unser Zuhören hilft ihnen, sich in ihrer Krankheit nicht allein und ohnmächtig zu fühlen. 

Unzählige Menschen können uns täglich begegnen, die sich gefangen fühlen. In Vorurteilen, Zwängen, im Hass. Menschen, die gefangen sind in ihrer Sucht und in Abhängigkeit. Wir helfen ihnen nicht, wenn wir dieses Leiden aus falschem Mitgefühl oder Konfliktvermeidung verdrängen, vertuschen, herunterspielen und verharmlosen. Unterstützen sollten wir bedingungslose Ehrlichkeit, Krankheitseinsicht und die notwendige Eigenmotivation, die Welt der Sucht zu verlassen, indem die Betroffenen sich professionelle Hilfe suchen. 

Soziales Handeln ist immer dort gefragt, wo Menschen neben uns nach etwas suchen oder etwas brauchen, was ihnen hilft Gesundheit, Halt, Würde, Trost, Mut und Lebenssinn zu finden. Nur in diesem Mitgefühl erfahren wir uns als wirkliche Menschen, als Mitmenschen, sozial und human.

Nicht überall ist „sozial“ drin, wo „sozial“ darauf steht

Aber nicht alles, was sich „sozial“ nennt, verdient auch diesen Namen. „Gemeinwohl“ kann täglich versagen, wenn sie zu einer sturen „Doktrin“ ausartet. Der Gedanke einer „sozialen Marktwirtschaft“ kann ein oft dahinter liegendes gieriges Profitstreben nicht immer ganz verdecken. Auch der Begriff „soziale Hängematte“ sollte er tatsächlich zutreffen, verdient nicht „sozial“ genannt zu werden. Auch diejenigen, die sich in den „sozialen Netzwerken“ aufhalten, verhalten sich nicht immer sozial zueinander.

Im Tun für andere sich selbst nicht vergessen

Bedenkenswert ist auch eine häufige Erfahrung, die die Schriftstellerin Gabi Künzel beschrieben hat: „Sozial eingestellte Menschen haben die Gabe, für die Sorgen der anderen unglaublich stark zu sein, während sie an ihren eigenen fast zerbrechen.“ Die Erfahrung der „hilflosen Helfer“ spielt hier eine große Rolle. 

Es ist sicher eines der schwierigsten Unterfangen in unserem Leben ein Gleichgewicht zwischen den großen Gewichten „Ich“ und „Du“ herzustellen, zwischen Selbstwertgefühl und Gemeinschaftssinn. Eine Aufgabe, die ein ganzes Leben andauert. Ideale werden hier nicht oder nur ganz selten erreicht. Sie sind auch nicht dazu da, dass wir unsere Kräfte permanent überschätzen sollten. Sie können aber wie ein Sternbild über uns stehen, das uns den Weg zeigen kann, im Gleichgewicht zu bleiben.

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de