"Man muss sich selbst erlauben zu trauern"

Interview mit der Trauerbegleiterin Maria Zucht aus Erfurt

"Tod und Trauer sind in der Gesellschaft ein Tabu", sagt Trauerbegleiterin Maria Zucht von der Erfurter Kontaktgruppe "Weiterleben ohne Dich". Vor allem aber die Trauer um fehl- und totgeborene Kinder stoße bei Außenstehenden auf wenig Verständnis, ist Zuchts Erfahrung. Sie rät verwaisten Eltern, sich ihre Trauer nicht verbieten zu lassen. David Hassenforder von der Pressestelle des Bistums Erfurt sprach mit Maria Zucht (46), die die Kontaktgruppe "Weiterleben ohne Dich" gemeinsam mit der Hebamme Uta Altmann in Erfurt begleitet.

Frage: Es klingt ungewöhnlich, von verwaisten Eltern zu sprechen.

Frau Zucht: Man spricht sonst nur von Waisenkindern. Der Begriff "verwaiste Eltern" kommt von den Betroffenen selbst. Für Eltern, die ihre Kinder verloren haben, gehört diese Selbstbezeichnung zur Überwindung ihrer Sprachlosigkeit dazu. Wer sich selbst verwaiste Mutter oder verwaister Vater nennen kann, hat gelernt, die Trauer auszuhalten und weiterzuleben, ohne das Kind zu vergessen. In einer besonderen Situation befinden sich die verwaisten Eltern von "Sternenkindern", wie wir die in der Schwangerschaft verstorbenen Kinder nennen. Diese Eltern konnten keine Zeit damit verbringen, ihre Kinder im Arm zu halten. Dennoch ist die Beziehung zu ihnen, selbst wenn die Schwangerschaft nur kurz war, oft sehr intensiv.

Frage: Sie erwähnen die Sprachlosigkeit. Ist der Tod eines Kindes ein besonderes Tabuthema?

Frau Zucht: Absolut. Heutzutage wird ohnehin nur ungern über den Tod gesprochen, er wird aus dem Leben verdrängt. Der Tod von Kindern ist da ein doppeltes Tabu. Es passt einfach nicht in unsere Vorstellung, dass Kinder vor den Eltern sterben. Und gerade wenn Kinder vor, während oder kurz nach der Geburt sterben, ist die Fassungs- und Sprachlosigkeit groß. Das macht es besonders schwer, um das tote Kind zu trauern.

Frage: Was genau erschwert diese Trauer?

Frau Zucht: Da kommt sehr vieles zusammen. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Trauerkultur sehr negativ verändert, man hat kaum noch Verständnis, wenn Menschen lange und intensiv trauern. Früher gab es zum Beispiel ein Trauerjahr, das als Schutzraum diente. Bekannte wussten genau, in diesem Jahr brauchen die Trauernden besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge. Das fehlt heute. Und gerade bei Fehl- und Totgeburten müssen sich trauernde Eltern die schlimmsten Sprüche anhören.

Frage: Mit welchen Aussagen werden die Eltern konfrontiert?

Frau Zucht: Außenstehende sind oft sehr hilflos und können die Beziehung, die Eltern zu früh gestorbenen Kindern haben, nicht nachvollziehen. Sprüche, wie "Wer weiß, was euch erspart geblieben ist" oder "Du bist doch noch so jung und kannst schnell wieder schwanger werden" helfen nicht weiter. Daran sind schon ganze Familien zerbrochen. Das macht Trauerarbeit fast unmöglich.

Frage: Wie sieht gute Trauerarbeit aus?

Frau Zucht: Aus vielen Beratungen und Gesprächen in unserer Eltern-Kontaktgruppe weiß ich, Trauer braucht Zeit, Raum und Erlaubnis. Das heißt: Man muss sich selbst erlauben zu trauern – auch gegen Widerstände von außen. Dann muss man sich genau die Zeit nehmen, die man braucht, und sich Räume schaffen, diese Trauer zu leben.

Frage: Welche Rolle spielen dabei Rituale?

Frau Zucht: Rituale sind immens wichtig und existenzieller Bestandteil einer Trauerkultur, sozusagen "Gehhilfen" auf dem Weg der Trauerverarbeitung. Dazu gehört, dass man sich bewusst von dem toten Kind verabschiedet und dabei erfährt: Der Tod meines Kindes ist Realität und nicht nur ein böser Traum. Seit einigen Jahren sieht das Bestattungsrecht glücklicherweise auch für vor der Geburt gestorbene Kinder eine würdige Beisetzung vor. Und dann ist es wichtig, die Erinnerung an das Kind zu pflegen und auch dem vor der Geburt gestorbenen Baby einen Platz zu geben.

Frage: Können Sie dafür Beispiele nennen?

Frau Zucht: Solche Zeichen können zum Beispiel Fußabdrücke des Babys sein. Oder ich gebe Frauen, die wissen, dass ihr Kind tot zur Welt kommen wird, einen kleinen Stein mit, den sie während der Geburt in der Hand halten. Den können sie später, wenn die Trauer besonders schmerzhaft ist, solange drücken, bis es schmerzt. Ich empfehle außerdem, sich zu Hause sichtbare Erinnerungs-Ecken einzurichten. Immer mehr verwaiste Eltern nutzen dazu auch das Internet, um ihrer Kinder zu gedenken. Am 14. Dezember, dem Gedenktag für tote Kinder, stellen verwaiste Eltern auf der ganzen Welt abends Kerzen in ihre Fenster. Und in Erfurt bieten wir eine Trauerfeier an.

Frage: Man stellt sich die Arbeit mit verwaisten Eltern sehr traurig vor. Gibt es auch schöne Momente?

Frau Zucht: Ja, natürlich, es gibt sogar sehr viele schöne Momente. Wir arbeiten beispielsweise auch mit Geschwistern verstorbener Kinder und veranstalten Familientage. Es ist wunderbar zu sehen, wie solidarisch sie untereinander sind, weil jeder ähnliche Erfahrungen gemacht hat und sie sich deshalb ohne große Worte verstehen. Wenn die Familien dann zusammen Luftballons steigen lassen, wird ganz deutlich: Zeichen und Rituale brauchen zum Überwinden der Sprachlosigkeit manchmal gar keine Worte.

Quelle: www.bistum-erfurt.de

http://www.bistum-erfurt.de/front_content.php?idart=10127

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Text: David Hassenforder
In: Pfarrbriefservice.de