„Das geteilte Leben und das geteilte Gefühl sind das Tolle am Zuhören“

Ein Interview mit Christoph Busch, der im Hamburger U-Bahnhof ein offenes Ohr für wildfremde Menschen hat

Näher am Leben sein und Geschichten schreiben für ein Buch – dafür mietete der Drehbuchautor und Journalist Christoph Busch 2018 einen ehemaligen Kiosk in einem Hamburger U-Bahnhof. Doch es kam anders. Das Buchprojekt wandelte sich in eine Ohren-Aktion. Christoph Busch (geb. 1946) hört seitdem zu, in diesem Kiosk auf einem Mittelbahnsteig zwischen zwei U-Bahn-Gleisen. Wildfremden Menschen, wildfremden Geschichten. Und er ist nicht mehr allein. Ein Team von Frauen und Männern aus verschiedenen Berufen teilt sich das ehrenamtliche Engagement mit ihm (www.zuhör-kiosk.de). Ein Interview mit Christoph Busch über das Zuhören.

Sie hören fremden Menschen zu, in einem ehemaligen Kiosk zwischen an- und abfahrenden Zügen. Das ist ungewöhnlich.

Christoph Busch: Unsere Zuhör-Situation in diesem Kiosk ist eine ganz besondere, aber deshalb, glaube ich, auch sehr produktiv. Zu uns kommen wildfremde Menschen, wir wissen nichts über sie. Sie können sogar ihren Namen für sich behalten und sich mit einem Pseudonym anreden lassen. Dann sitzen wir als Zuhörer da, ganz gespannt, und fragen uns: Wer ist das wohl? Was bringt er oder sie mit – etwas Lustiges oder eher etwas Trauriges? Ganz oft werden uns Sachen anvertraut, die man sonst niemandem erzählen mag. Das ist eine große Ehre. Gleichzeitig wird man in dem Moment vom Fremden zum guten Freund, gleichsam zu einem ‚fremden Freund‘. Jemand ist einem für diesen Moment ganz nah. Aber er muss uns nicht wiedersehen. Das ist das Schöne für ihn.

Und für Sie?

Christoph Busch: Für uns ist das Spannende die Überraschung, ihn oder sie nicht nur mit dem Verstand aufzunehmen, sondern auch vom Gefühl her, mitzufühlen, das Gefühl, das beim Zuhören entsteht, an sich heranzulassen, keine professionelle Distanz zu wahren und die Dimension, die einem erzählt wird, mit anzunehmen und zu akzeptieren. Da sitzt mir nicht ein Gefühl gegenüber, das ich beobachte, sondern ich teile das Gefühl, Gott sei Dank bei leidvollen Geschichten nicht in dem Umfang, wie es mein Gegenüber empfindet. Aber ich krieg schon was ab von dem Gefühl und darf auch entsprechend reagieren. Und die Tatsache, dass er mir soviel anvertraut, berechtigt mich, mich mit ihm zu unterhalten, als würde ich ihn schon ewig kennen, als wäre er mein bester Freund. Wenn er geht, ist das wieder vorbei.

Welche Haltung finden Sie hilfreich fürs Zuhören?

Christoph Busch: Neugier. Ich meine nicht die Sensationslust, sondern die Neugier als etwas Positives. Ich weiß ja nicht, wer da kommt. Aber ich bin neugierig auf diesen Menschen. Ich begegne ihm offen und ohne Vorbehalte. Wichtig finde ich auch, sich klarzuwerden, warum man die Geschichten anderer Leute anhören will. Das sage ich immer, wenn jemand neu bei uns im Team anfängt: Überlege dir, warum du das eigentlich machst. Pure Selbstlosigkeit gibt es nicht, unser Ich ist immer im Spiel. Man muss sich fragen: Was hab ich davon?

Was haben Sie vom Zuhören?

Christoph Busch: Ich empfand es schon immer als Geschenk, als Journalist in ein Leben reinschauen zu dürfen, das ich selbst so niemals kennenlernen würde. Beim Journalisten steckt da aber immer der Verwertungscharakter dahinter. Das war bei mir am Anfang im Zuhör-Kiosk auch so. Ich wollte Geschichten sammeln, Charaktere, die ich für ein Buch hätte verwerten können. Dann hab ich aber gemerkt, wie spannend das Zuhören ist und wie überraschend. So bin ich immer mehr von diesem Verwertungsgedanken weggekommen und hab mich richtig eingelassen, auch auf meine eigenen Gefühle, die da in der Gesprächssituation entstehen. Ich denke, dieses Einfühlen in den anderen und in mich selbst hilft mir, Dinge zu sagen, die dem anderen weiterhelfen.

Eine Ihrer Erfahrungen mit dem Zuhören lautet: Wer hören will, muss fühlen. Was meinen Sie damit?

Christoph Busch: Mitfühlen heißt, die Gefühle des Gegenübers zu respektieren und mit allen Sinnen und Verstand an sich heranzulassen. Wenn ich mitfühle, reagiere ich anders auf das, was gesagt wird, als wenn ich das Gesagte nur als sachliche Information verstehe. Ich kriege ein Gefühl dazu. Richtig intensives Zuhören geht nur über Gefühl. Ich leide mit jemandem, ich freue mich mit jemandem und meine Welt wird größer dadurch. Soviel kann man gar nicht leben, wie man beim Zuhören lernen kann. Das geteilte Leben und das geteilte Gefühl sind das Tolle am Zuhören.

Über Gefühle geschieht also Anteilnahme, dadurch wird ein Verstehen möglich. Über die Gefühle kann man die Welt des anderen besser verstehen …

Christoph Busch: … und die eigene.

Auch die eigene?

Christoph Busch: Ja, weil ich mich automatisch frage: Kenne ich dieses Gefühl bei mir auch? Wie gehe ich damit um? Ich habe zum Beispiel angefangen, bewusster zu essen, nachdem mir nach Gesprächen aufgegangen ist, dass ich viel unterwegs esse, aber ohne Genuss, ohne bewusstes Wahrnehmen. Ich habe durch das Zuhören gelernt, Gefühle wieder mehr zu schätzen. Gefühle sind die Grundpfeiler unserer Identität.

Fehlt unserer Gesellschaft das Zuhören?

Christoph Busch: Ich würde es nicht auf das Zuhören beschränken. Mehr miteinander reden, einander mehr verstehen, das täte unserer Gesellschaft gut. Da gehört das Zuhören dazu, aber auch das Aussprechen von Dingen. Ich höre öfters den Satz: Es ist gut, dass Sie das machen; es hört einem ja keiner mehr zu. Ich habe mich dann gefragt, woher diese Ansicht kommt bei Menschen, die Freunde und Bekannte haben und sich ausdrücken können. Ich glaube, dass viele Leute den Mut nicht mehr aufbringen, wirklich das Gespräch mit jemandem zu suchen, sich anderen wirklich anzuvertrauen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben. Für mich ist die grundlegende Frage dabei: Trauen wir unseren Gefühlen noch? Ich würde sagen, nein. Weil wir von Kindheit an durch Werbung und Medien in unseren Gefühlen manipuliert werden. Das geht soweit, dass wir unseren eigenen Gefühlen nicht mehr trauen. Und wenn ich mir selbst nicht traue, wieso sollte ich einem anderen trauen? Also bitte ich ihn auch nicht, mir zuzuhören, in der Annahme, der würde das nur missbrauchen. Darum läuft auch der Kiosk so gut, weil man sich nicht wiedersehen muss.

Das heißt, Zuhören ist für Sie ein Weg, wieder stärker mit seinen eigenen Gefühlen in Kontakt zu kommen?

Christoph Busch: Ja, das sehe ich so.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

Mehr Informationen zum Zuhör-Kiosk von Christoph Busch unter www.zuhör-kiosk.de.

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Das Schwerpunktthema für August/September 2022

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de