„Beten ist wie Atmen“

Persönliche Erfahrungen mit dem Gebet

- Nur einmal angenommen, Sie befänden sich in einer ganz schlimmen persönlichen Krise, könnten vor lauter Sorgen kaum noch schlafen und selbst auf Ihrer Arbeitsstelle nur mit Mühe Ihre Tränen zurückhalten. Dann käme ein Kollege, eine Kollegin auf Sie zu, würde Sie beiseite nehmen und fragen: „Sag mal, is’ irgendwas? Kann ich dir helfen? Wenn du darüber reden willst, du weißt, ich bin immer für dich da!“ Das wäre doch ganz gewiss ein großer Glücksfall! Dabei muss ich immer daran denken, dass ich solche Glücksmomente eigentlich immer haben könnte, ganz unverdient, zu jeder Zeit, in allen möglichen Situationen – immer, wenn ich das Bedürfnis spüre, zu beten.

- Das, was ich „beten“ nenne, drückt eigentlich alles aus, was für mich das Wesen meines Glaubens widerspiegelt. Das Höchste und Tiefste offenbart sich in diesem so einfachen Akt: mit Gott zu sprechen, mit Worten, aber auch ohne Worte, kurz oder lang, im Stillen oder in aller Öffentlichkeit. „Nur im Gebet darf der Mensch eigentlich alles sagen und wagen“, formulierte der Schriftsteller Jean Paul.

- Was für meinen Körper das Atmen ist, das ist für meine Seele das Gebet. So wie das Atmen mir immer wieder spürbares Leben schenkt, so ist Beten für mich die Gewissheit, da zu sein, aufgehoben, geborgen und beschützt zu sein in dem, was mir Leben gibt und erhält. Im Beten kann ich tief durchatmen, um mit jedem Atemzug die Freiheit zu spüren, all das loslassen zu dürfen, was mich bekümmert, ängstigt und sorgt, um dann wieder mit Zuversicht und Hoffnung die neue Stunde, den neuen Tag einzuatmen.

- So, wie meine Kräfte im Leben immer wieder Ruhephasen brauchen, um sich zu erholen, um wieder neue Kräfte aufzunehmen, so suche ich im Gebet auch eine Kraftquelle für meinen Glauben, für meine Hoffnung und meine Fähigkeit zur Nächstenliebe.

- Ich kann und ich darf im Gebet immer wieder um all das bitten, was ich und meine Mitmenschen auf der ganzen Welt zum Leben brauchen. „Unser tägliches Brot gib uns heute!“, heißt es im Vater unser. Natürlich ist das Gebet für mich auch der direkte Weg, mich bei dem zu bedanken, der mir und anderen seine Hilfe anbietet. Jeder dankbare Mensch erkennt im Geschenk ein Beziehungsangebot des Schenkenden und darf darauf antworten.

- Immer, wenn ich mich beschenkt fühle, dann ist es für mich das Schönste, auch mein Lob an den Schenkenden zurückzugeben. Es ist ein Lob für alles, was der Schöpfer je geschaffen hat, ein Lob für alles, was er für uns je getan hat, was er heute tut und immer tun wird. Dieses Lob braucht unsere Sprache, unsere Lieder, unsere Musik und alles, was wir in seinem Namen tun und schaffen.

- Wenn ich jemanden liebe, und ich liebe Gott, dann habe ich das Bedürfnis, es ihm auch zu sagen, immer und immer wieder, auch und gerade in den Situationen, in denen ich ins Wanken gerate, am Leid in der Welt verzweifeln möchte, mich an den vielen Ungerechtigkeiten und Schicksalsschlägen reibe, wenn ich an manchem zu zweifeln und zu hadern beginne, wenn ich wütend und hilflos werde, auch wenn mir manchmal ein Fluch auf den Lippen liegt. Mit wem sonst sollte ich meine Sorgen, Probleme und Fragezeichen denn teilen als gerade mit dem, der gesagt hat: „Kommt alle zu mir, die ihr geplagt und mit Lasten beschwert seid! Bei mir erholt ihr euch.“ (Matth 11,28)

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de