„Beten gehört in jedes Leben“

Ein Interview mit dem Buchautor und Pfarrer Stefan Jürgens

Herr Pfarrer Jürgens, Sie schreiben Bücher, in denen Sie die Reformunwilligkeit der katholischen Kirche scharf kritisieren, und Bücher über das Beten und den Glauben. Beides gehört für Sie zusammen. Warum?

Stefan Jürgens: Ich glaube, dass wir erst einmal eine Gottesbeziehung brauchen. Gott lädt uns ein, Beziehung zu ihm aufzunehmen. Das Gebet ist für mich dabei die Grundlage. Ich bete nicht, weil ich glaube, sondern ich glaube, weil ich bete! Das persönliche Beten ist mir sogar wichtiger als das Beten im Gottesdienst, weil es im Glauben eben um eine persönliche Gottesbeziehung geht. Kirchenreform ist darüber hinaus ein wichtiges Thema, denn wir können die Botschaft des Evangeliums nur dann glaubwürdig in die Welt tragen, wenn die Kirche in sich auch glaubwürdig ist. Das eine geht nicht ohne das andere.

Manche Kritiker des Synodalen Weges sehen das anders. Sie fragen: Was wollt ihr mit euren Reformen, wenn die Leute nicht wieder anfangen zu glauben?

Stefan Jürgens: Die Reformen des Synodalen Wegs sind unbedingt nötig. Die Kirche darf sich in ihrer Struktur stetig verändern, solange die Treue zum Evangelium bleibt. Ich meine, dass die Reformkräfte in der Kirche nicht wollen, dass die Botschaft Jesu verwässert wird, sondern dass die Struktur der Kirche glaubwürdig wird. Von daher widerspricht sich beides nicht.

Beten macht auf viele Menschen vermutlich einen etwas weltfremden und sehr frommen Eindruck. Was sagen Sie diesen Menschen?

Stefan Jürgens: Das Gespräch ist Grundlage jeder funktionierenden Beziehung – das Hören, das Sprechen, das Miteinander-Verweilen, das Zeit-füreinander-haben. Beten ist überhaupt nicht etwas nur für Fromme, sondern für alle gläubigen Menschen. Beten ist keine Kunst, sondern ein Handwerk. Und es ist Beziehungspflege. Es ist keine fromme Sonderwelt, sondern es gehört in jedes Leben.

In Ihrem Buch „Wie Beten geht“ schreiben Sie, dass Sie als junger Mensch Schwierigkeiten mit dem Beten hatten.

Stefan Jürgens: Ich wollte schon ganz früh Priester werden, hatte aber das Gefühl, nicht richtig beten zu können. Ich hatte immer gedacht, es müsse irgendwie intensiver sein, ich müsse lernen, in direkten Kontakt mit Gott zu kommen, was aber ausblieb. Bis ich gemerkt habe: Ich hatte das Gebet überfordert, weil ich meinte, es müsse eine besondere Erfahrung sein. Und dann habe ich gemerkt, es ist eher Treue und eine Frage von Form und Zeit. Man muss die Form erst einmal kennen, sich die Zeit nehmen, einen Ort auswählen, und dann fängt es irgendwann an, in einem zu beten. Ich habe erkannt, ich muss von außen nach innen beten. Das heißt, dass zunächst der äußere Rahmen da ist und sich das Gefühl erst später einstellt. Wenn man wartet, dass sich das Beten gut oder fromm anfühlt, lässt man es bald wieder bleiben. Man muss einfach damit beginnen und Zeit und Ort dafür freihalten.

Treue, feste Zeit, fester Ort – was hilft noch, wenn man zu beten anfangen will?

Stefan Jürgens: Es gibt ganz klare Regeln, die ich auch in meinem Buch beschreibe. Wichtig ist, klein anzufangen. Ich habe verschiedene Zeiten und verschiedene vorformulierte Gebete ausprobiert, ich habe mit der Bibel, mit den Psalmen oder den Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach gebetet. Im Moment brauche ich nur noch ganz wenige Worte. Jetzt ist mein persönliches Beten regelmäßig am Tag eine halbe Stunde Stille mit einem gesprochenen Gebet und einem Bibelwort am Anfang und dem Vaterunser und einem Segen am Ende, aber dazwischen ist einfach Stille. Das ist im Moment das Angemessene für mich, denn Gott weiß ja, was ich brauche und was die Welt braucht. Aber ich möchte gerne mit ihm in Kontakt sein, um immer wieder Kraft zu haben für meinen Weg. Egal, was man betet, wichtig ist, eine Regelmäßigkeit zu finden, und dass die Form den Inhalt trägt. Wenn Gebet Beziehungspflege ist, dann gilt, was für jede menschliche Beziehung auch gilt, nämlich: Treue geht vor Qualität. Auch in einer menschlichen Beziehung ist nicht jeden Tag die Qualität gleich. Aber die Treue, die Regelmäßigkeit und das Miteinander-Sprechen, das gibt es immer.

Klein anfangen – heißt das, zehn Minuten am Tag?

Stefan Jürgens: Zehn Minuten mögen für manch gestressten Menschen für den Anfang schon zu viel sein. Ich empfehle Menschen, die überhaupt nicht mehr gebetet haben, dass sie vielleicht am Abend einen Psalm sprechen, ein Vaterunser beten und das Kreuzzeichen machen. Wichtig ist, dass sie das regelmäßig tun. Das kann dann immer weiter ausgebaut werden. Was ich für problematisch halte, ist das sogenannte Stoßgebet, also wenn man Gott nur noch bei Alltagsproblemen anruft, aber ansonsten keine Beziehung zu ihm sucht. Das Beten wird dabei zur magischen Beschwörung. Ich will mit meinem Beten nicht Gott verändern, aber ich vertraue darauf, dass Gott mich verändert – und dann durch mich die Welt.

Sie haben es vorhin angesprochen: Sich in ein Musikstück vertiefen, ist für Sie auch Gebet?

Stefan Jürgens: Selbstverständlich. Alles, was mich zu mir selbst und zu Gott führt, ist Gebet. Da, wo ich ganz bei mir bin, bin ich ganz bei Gott. Und wo ich ganz bei Gott bin, bin ich ganz bei mir. Das kann das Üben eines Musikstücks, das Malen oder das Betrachten eines Bildes sein. Wichtig ist hier wieder die Regelmäßigkeit. Es kommt nicht darauf an, fromme Worte zu machen, sondern ganz bei sich zu sein. Das ist die Erfahrung der Mystiker.

Wenn Christen nicht mehr beten, dann …

Stefan Jürgens: … dann wird Gott zu einem Niemand. Da, wo das Gespräch, das Aufeinander-Hören aufhört, da ist Schluss. Ich glaube, dass viele Christen ihren Glauben verloren haben, weil sie das Gebet aufgegeben haben. Bloß eine Ahnung oder ein Fühlen eines höchsten Wesens ist kein Glaube. Glaube braucht die persönliche Beziehung zu Gott. Deswegen glaube ich, dass wir nicht nur eine Kirchenkrise, sondern eine Glaubenskrise haben, die auch eine Gebetskrise ist. Sehr viele Menschen, die sich mir im seelsorglichen Gespräch offenbaren, beten, wenn überhaupt, nur noch in den Gottesdiensten und gar nicht mehr für sich.

Was wünschen Sie sich für das Beten der Christen?

Stefan Jürgens: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir das Beten wieder lernen, angefangen in den Kindergärten, Schulen und Katechesen – Grundgebete, kleine Einheiten von Stille, aber auch selbst formulierte Gebete. Und plötzlich merkt man, dass Gebet und Leben sehr viel miteinander zu tun haben. Wir brauchen als Seelsorger, als Gemeinden Gebetsschulen, die wir überall dort einsetzen können, wo wir mit Menschen in Kontakt sind.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

Zur Person

Pfarrer Stefan Jürgens ist Autor mehrerer Bücher. Sie tragen Titel, wie „Dranbleiben! Glauben mit und trotz der Kirche“, „Fromme Gefühle sind nicht genug: Warum Glaube erwachsen werden muss“ oder seine Kleine Gebetsschule „Auf du und du. Wie Beten geht“. Sein Buch „Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche“ schaffte es 2019 auf die Spiegel-Bestsellerliste. Stefan Jürgens ist Leitender Pfarrer in Ahaus im Bistum Münster.

Weitere Materialien

Religiöser Buchtipp

von

Borromäusverein

„Beten ist überhaupt keine Kunst, sondern eher ein Handwerk“, stellt Stefan Jürgens in seiner kleinen Gebetsschule fest. Der Pfarrer von Ahaus, der als Sprecher des Worts zum Sonntag bekannt wurde und mehrere Bücher geschrieben hat, hat darin seine Gebetserfahrungen zusammengestellt.

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de