Wie fühlt sich jüdisches Leben heute an?

Zwischen Aufbruch in ein neues jüdisches Selbstbewusstsein und der Notwendigkeit geschützter Räume

Um die Gegenwart zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig. Vor der Shoa stand jüdisches Leben in Deutschland in voller Blüte. So oder ähnlich klingen Formulierungen, die sich dem Judentum vor 1933 widmen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass antisemitische Vorfälle – bis hin zum Mord – auch damals das jüdische Leben in Deutschland prägten. Geschäfte, die keine Juden bedienten, Hotels, die damit warben, „judenrein“ zu sein, und antisemitische Vereine, Verbände und Parteien, die offen ihre Feindschaft zum Judentum auslebten. Antisemitismus beginnt nicht erst mit Auschwitz. Das Wissen um diese Umstände schärft den Blick auf die vergangene und gegenwärtige Lebensrealität der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

Das Ende des lebendigen Judentums

Von einer Blüte des Judentums vor der Shoa zu sprechen, ist dennoch nicht gänzlich verkehrt. So entstand etwa von Deutschland ausgehend das Reformjudentum. Die erste jüdische Frau weltweit wurde hier zur Rabbinerin ordiniert. Regina Jonas sollte den Weg ebnen für ein modernes und progressives Judentum. Doch sie teilte das Schicksal ihrer sechs Millionen Brüder und Schwestern. Das lebendige mitteleuropäische Judentum war vernichtet.

Die wenigen Überlebenden der Shoa feierten in kleinen Kreisen erste Gottesdienste. Die innerjüdische Pluralität war kaum mehr vorhanden. Die Erfahrungen während der Shoa waren der identitätsstiftende Faktor. Das jüdische Leben war geprägt vom orthodoxen Judentum der zumeist osteuropäischen Überlebenden. In dieser Zeit etablierte sich in den jüdischen Familien die Wortwendung der "gepackten Koffer". Denn die Gemeinden, mit ihren nur noch 15.000 Mitgliedern, verstanden sich als Übergangslösung, an eine Zukunft für das Judentum in Deutschland war kaum zu denken.

Wiederbelebung der Gemeinden

Erst durch den Niedergang der Sowjetunion und die Einwanderung von mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden aus den osteuropäischen Staaten in den 90er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung der Gemeinden. Die kleine jüdische Gemeinschaft stand vor großen Herausforderungen. Zum einen galt es, die Migrantinnen und Migranten – deren jüdisches Wissen aufgrund sowjetischer Repressalien gegenüber dem Judentum oft gering war – in das Gemeindeleben einzubinden. Zum anderen war eine Integrationshilfe in die deutsche Gesellschaft erforderlich, die maßgeblich die Gemeinden übernahmen. Diese Herausforderungen bestehen bis heute, dennoch ist es den zugewanderten Jüdinnen und Juden zu verdanken, dass die Gemeinden wieder mit Leben gefüllt wurden.

Aus dieser Entwicklung heraus erwachte das Bedürfnis nach Pluralität und nach einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein. Das Gemeindeleben gewann wieder an Lebendigkeit – neben religiösen Gottesdiensten gehörten nun auch wieder kulturelle Veranstaltungen, soziale Aktivitäten und Familienfeste zum Alltag der jüdischen Gemeinden. Dieses Selbstbewusstsein und die Wiederbelebung ermöglichten die Gründung neuer Gemeinden und die Schärfung des innerjüdischen Profils. Verschiedene jüdische Strömungen wurden dadurch wieder sichtbar. Es war ein schwieriger Prozess. Keine Selbstverständlichkeit. Doch der starke Wille der Gemeindemitglieder vollbrachte das zuvor Undenkbare – Jüdinnen und Juden fanden wieder in Deutschland ein Zuhause. Trotz der seelischen und körperlichen Wunden der Shoa, die bis heute in den Gemeinden spürbar sind – generationsübergreifend.

Jüdisches Leben pluralistischer denn je

Schaut man auf das jüdische Leben heute in Deutschland, so ist es pluralistischer denn je – von ultraorthodoxen über konservative bis hin zu liberalen Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinden. Auch die Vielzahl jüdischer Organisationen ist beachtlich – so ist es wieder möglich, sich in Deutschland zum Beispiel am Abraham Geiger Kolleg zur Rabbinerin bzw. zum Rabbiner ausbilden und ordinieren zu lassen. Jüdische und nichtjüdische Studierende können die Begabtenförderung der Ernst Ludwig Ehrlich Stiftung in Anspruch nehmen. Der Verein Keshet setzt sich für die Gleichberechtigung von jüdischen LGBTQ ein. Es gibt etliche jüdische Kunst- und Kultureinrichtungen wie die Villa Seligmann in Hannover, die nicht nur das jeweilige Stadtleben bereichern. Des Weiteren sind jüdische Schulen, Kindergärten und Bildungseinrichtungen entstanden. […]

Große Herausforderung für jüdische Gemeinden

Und damit sind wir bei der größten Herausforderung jüdischer Gemeinden heute. Einerseits besteht der Wunsch nach Dialog, der Schaffung eines offenen Hauses, nach Teilhabe an der deutschen Gesellschaft – doch andererseits ist die Existenz von geschützten Räumen erforderlich, nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auch im Sinne von mutmachenden Räumen, wo Jüdinnen und Juden ihre jüdische Identität leben können ohne Befürchtungen vor Anfeindungen. Das Dilemma der Gegenwart wird hieran offensichtlich: Das Ziel ist ein jüdisches Selbstbewusstsein und ein positiver Zugang zur eigenen jüdischen Identität. Doch gleichzeitig ist die Sensibilisierung erforderlich, wo und wie Judentum sichtbar nach außen zu zeigen ist, denn Angriffe und Beleidigungen sind für sichtbare Jüdinnen und Juden Alltag.

Intensive Dialogarbeit nötig

In einem sehr bekannten jüdischen Lied von Rabbi Nachman von Braclaw heißt es: „Die ganze Welt ist eine schmale Brücke. Und es kommt darauf an, dass wir uns nicht fürchten.“ Um das Judentum selbstbewusst und ohne Furcht leben zu können, ist der aktive interreligiöse und interkulturelle Dialog eine notwendige Brücke. […]

An dieser intensiven Dialogarbeit mit diversen Zielgruppen wird die besondere Herausforderung deutlich: Es werden zahlreiche positive, kraftgebende Erfahrungen gesammelt. Gleichwohl sind die jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auch stets antisemitischen Erfahrungen im Rahmen dieser Dialogarbeit ausgesetzt. Nichtsdestotrotz werden die Notwendigkeit und auch die Erfolge dieser wichtigen Verständigung gesehen.

Schließlich arbeiten wir gemeinsam daran, dass jüdisches Leben in Deutschland gegenwärtig und auch in Zukunft Bestandteil der deutschen Gesellschaft bleibt. Trotz und wegen Auschwitz. Am Israel chai – das jüdische Volk lebt.

Rebecca Seidler
Quelle: NDR Kultur, www.ndr.de/ndrkultur, In: Pfarrbriefservice.de

Rebecca Seidler ist Sprecherin der israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen und engagiert sich seit Jahren gegen Antisemitismus.

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Text: Rebecca Seidler, Quelle: NDR Kultur
In: Pfarrbriefservice.de