Vom Überleben zum Leben

Katja Hornfeck war als Kind über viele Jahre hinweg massiver sexueller Gewalt ausgesetzt. Der Glaube und das Laufen halfen der Pfarrerin dabei, immer wieder aufzustehen und ins Leben zu finden.

„Es gibt Menschen, die Kinder in extremer Form manipulieren können. Wenn dann noch die Eltern an ihren eigenen Geschichten tragen, kann es sein, dass sie gar nicht mitbekommen, was ihren Kindern angetan wird. Bei mir betraf es das nähere Umfeld und begann bereits früh, im Kleinkindalter“, erzählt Katja Hornfeck. Mehr möchte sie dazu nicht sagen. Die ersten Lebensjahre zogen einen schmerzhaften Riss in ihre Seele. „Ich war als Kind in einer Situation, aus der ich nicht flüchten konnte“, sagt sie. Auch später noch, über Jahre hinweg, sei ihr Leben ein einziger Kampf ums Überleben gewesen.

„2010 war für mich die Kehrtwende“, sagt die 41-Jährige. „Da nahm ich für ein Jahr eine Auszeit.“ Vorher dachte sie stets, mit genügend Arbeit an sich selbst in Alltag und Psychotherapien würde alles irgendwann wieder halbwegs gut werden. „Doch 2010 stellte ich fest, dass ich mich anstrengen und abstrampeln kann, wie ich will - es läuft bei mir nicht so wie bei Menschen, die eine unbeschwerte Kindheit hatten.“ Ihre Vergangenheit behindert sie in vielen Bereichen. Menschen, die sexuell missbraucht wurden, leiden häufig unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Viele Jahre hatte die Angst Katja komplett im Griff: Menschenmengen konnten sie ganz plötzlich in großen Stress versetzen. „Ein Gefühl ist es dann, als wäre gleich alles vorbei. Der Körper stellt sich auf das Schlimmste ein und reagiert mit Herzrasen, Angstschweiß, Sehschwierigkeiten.“

Die Auszeit half Katja, für sich selbst festzustellen, was für sie an Alltagsbelastungen überhaupt möglich ist. Und: 2010 brach sie auch ihr Schweigen. Erstmals gelang es ihr, über ihre leidvolle Vergangenheit zu sprechen. „Mit meiner Vergangenheit leben zu lernen, war für mich ein langer Prozess. Erst spät habe ich akzeptiert: Therapien helfen, aber Narben bleiben wohl für immer - als Grenzen, die ich hinnehmen muss.“ Bis heute muss Katja gut auf sich und ihre Grenzen achten, damit ihre Innenwelt im Lot bleibt. Die Balance zu halten, das bedeutet für sie einen täglichen Drahtseilakt. Dieser fällt ihr auch deshalb seit 2010 leichter, weil sie ihn nicht mehr alleine bewältigen muss. „Da bekam ich meine Assistenzhündin Fianna, die mich auf Schritt und Tritt begleitet.“ Katjas Zweitberuf ist Hundetrainerin und sie bildete Fianna mithilfe des Vereins Hunde für Handicaps selbst zur anerkannten Assistenzhündin aus. Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind oft sehr schreckhaft und die Sheltie-Hündin unterstützt Katja, indem sie Schreckmomente aus ihrem Leben nimmt: „Ich kann Fianna an Ecken vorschicken und sie signalisiert mir, wenn sich dort ein Mensch nähert. Sie sichert mich nach hinten hin ab oder führt mich aus einem Kaufhaus heraus. Menschenmengen können nach wie vor belastend sein.“ Assistenzhunde für Posttraumatische Belastungsstörungen können für ihren Besitzer auch einen Anker darstellen, der ihnen hilft, nicht in die bedrohliche Gefühlswelt der Kindheit zurückzufallen.

Kann ich mit dem Leid, das ich erlebt habe, jemals meinen Frieden machen? Das ist eine der Fragen, die Katja immer wieder beschäftigt haben. „Der Glaube hilft mir: Ich kann alles in Gottes Hände legen, was in mir oder im Leben bruchstückhaft ist. Wo ich an Grenzen gerate - an eigene oder solche, die mein Leben mir aufzeigt. Genauso das, was immer wieder auch an dunklen Gefühlen da ist, an Ringen um Sinn und Lebensfreude, das kann ich manchmal an Gott abgeben. Zeitweise aufatmen. Und ich muss nicht alles vergeben können, ich bin nicht Gott. Auch das Vergeben kann ich Gott überlassen. So mache ich damit meinen Frieden.“

Von ihrer Angst lässt sich Katja heute nicht mehr manipulieren und versucht, mit ihr so gelassen wie möglich umzugehen. Das benötigt oft einen langen Atem, aber Ausdauer ist sowieso Katjas Stärke. Ihre liebste Freizeitbeschäftigung ist das Laufen. Zwischen dem Laufen und dem Glauben gibt es für sie eine starke Verbindung: „Ich empfinde gerade die langen Läufe oft als meditativ. Beim Laufen werde ich frei für eine andere Ebene, kann mich da hineinversenken.“

Katja ist Pfarrerin im Rheinland. Nach ihrer Auszeit entschied sie sich bewusst für eine Teilzeitstelle: „Da ich meine Ängste immer überprüfen muss, um mich nicht von ihnen unhinterfragt bestimmen zu lassen, brauche ich jeden Tag viel Energie. Deshalb bleibt das Leben für mich bis heute anstrengender als für andere.“ Dennoch geht Katja in ihrem Beruf voll auf: „Ich bin von Berufs wegen auf der Suche nach dem Guten, Hoffnungsvollen, nach Licht. Nach dem, was Menschen trägt. Das liebe ich an meinem Beruf!“ Ihre Berufswahl hängt unmittelbar mit ihrer Lebensgeschichte zusammen: An der Bibel fasziniert sie, dass Gott stets auf der Seite derer ist, die es schwer im Leben haben. „Ihnen ist er so nah, wie es näher nicht geht. Es gibt kein tieferes Leid als jenes, das Gott selbst in seinem Sohn durchlebte. Gott hat selbst das Dunkel erlebt und durchlebt - und war doch stärker“, sagt sie.

Im Studium stand für sie das Hadern mit dem Leben im Vordergrund. Damit, dass Gott scheinbar nicht da war, nicht half, als das Schlimme passierte. Während ihres Studiums betrieb sie den Laufsport exzessiv. Manchmal lief sie 60 Kilometer am Stück - trotz körperlicher Schmerzen - ihren Gedanken und Ängsten davon, weil sie es anders nicht aushielt. „Lernen im Studium, Glauben und Leben waren damals eng verbunden“, berichtet sie. „Irgendwann konnte ich versöhnlicher auf mein Leben blicken. Ich habe im Rückblick etwas Verblüffendes festgestellt: So oft hatte ich in der Vergangenheit am Abgrund gestanden und trotzdem war es irgendwie immer weitergegangen. Immer wieder war plötzlich wie aus dem Nichts neue innere Kraft da. Oder es tauchten von irgendwoher Menschen auf, die mich unterstützten und förderten. Heute glaube ich, dass uns Gott niemals verlässt. Wenn wir gerade am Abgrund stehen, können wir ihn nur nicht immer spüren.“

Irina Strohecker
Aus: andere zeiten – Das Magazin zum Kirchenjahr, 1/2017. Hamburg: Andere Zeiten e.V.,
www.anderezeiten.de. In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Irina Strohecker, www.anderezeiten.de
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