Vergebung für einen Mörder

Hinterrücks wurde ihr Sohn erschossen, gerade mal 23 Jahre alt. Heute sagt die Mutter: „Ich habe dem Täter vergeben.“ Wie ist so etwas möglich?

„Wien, September 1992. Ich bügle gerade ein paar Hemden, während mein Mann und mein jüngster Sohn Briefe schreiben. Als das Telefon an jenem Sonntagabend klingelt, hebe ich nichts ahnend ab. Am anderen Ende meldet sich ein Polizist. Seine Worte lassen mein Herz fast erstarren. Tim, unser Sohn, sei in eine ‚ernste Angelegenheit’ verwickelt, erklärt er. Mehr will er mir nicht sagen.“

20 Jahre später. Es ist Mitte März 2012, ein erster goldener Frühlingstag in St. Gallen. In der Mensa der Kantonsschule Burggraben spricht die evangelische Missionarin Dianne Collard aus Charlotte in North Carolina in den USA. Fröhlich, herzlich, umarmend empfängt die 65-Jährige die rund 100 englischsprachigen Frauen aus der Region. Die Leiterin der christlichen Organisation „Artists in Christian Testimony International“ in Europa hält seit 1986 weltweit Vorträge, leitet Seminare und bildet evangelische Missionare aus. Zusammen mit ihrem Mann Glenn, 67, hat sie über 40 Länder bereist. Seit 15 Jahren ist Tims Geschichte fester Bestandteil ihrer Vortragstätigkeit.

Die Münder sind offen, die Blicke hängen an ihren Lippen. Das ungläubige Staunen, auch Entsetzen steht den Zuhörerinnen sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. Die Geschichte, die die promovierte Missionswissenschaftlerin erzählt, geht unter die Haut.

„Erst einige Stunden später erfuhren wir Einzelheiten: Tim war tot. Erschossen. Verstümmelt. Ein eifersüchtiger Ehemann hatte dreimal von hinten auf ihn geschossen. Ein Missverständnis. Unser Tim, gerade mal 23 Jahre alt, war völlig unschuldig“, erzählt die Amerikanerin.

Diese Tat zieht in der Familie schreckliche Kreise. Unzählige Tränen, unendliche Trauer. Tims hochschwangere Frau Teresa gebärt 48 Stunden nach der Tat Tochter Alexandria Nicole, die schwer unter dem Verlust ihres Vaters leidet. Und: Wendy, die Schwester von Tim, plagen über Jahre Panikattacken.

Die dreifache Mutter ist verzweifelt. „Ich hatte keine Hoffnung, keinen Lebenswillen mehr, zweifelte an Gott. Ich konnte nicht begreifen, dass Tim, der jeden umarmt hat, der Menschen und Tiere liebte, von Gott so im Stich gelassen worden ist. Ich fühlte mich von ihm verraten. Anfangs konnte ich nicht einmal den Namen des Täters aussprechen. Ich nannte ihn nur ‚das Monster’, das meine Familie zerstört hat.“

Doch bald merkt sie: „Wenn ich nicht vergebe, sterbe ich innerlich. Es ist, als würde man Gift trinken in der Hoffnung, dass der andere stirbt.“ Sie nennt es „emotionalen Selbstmord“. Bitterkeit und Hass zerstörten Körper und Geist, aber auch die engsten Beziehungen. „Ich verletzte die Menschen, die ich am meisten liebe.“

Vergeben braucht Zeit

Wie weiter? Hass schüren oder Gutes säen? Verbittern oder Heilung suchen? „Ich entschied mich für die Freiheit“, sagt die engagierte Christin.

Gut ein Jahr nach der Tat entschließt sie sich, dem Mörder ihres Sohnes zu vergeben. „Ich schrieb alle Gefühle von Trauer und Verlust nieder. Meine Wut. Meine Angst. Ich war schonungslos offen. Zu guter Letzt schrieb ich in Großbuchstaben quer über die ganze Seite ‚Vergeben’ und verbrannte anschließend das Blatt Papier. Es war ein Zeichen dafür, dass ich nicht länger an meinem ‚Recht’ festhielt, diesen Mann zu hassen oder mich an ihm rächen zu wollen.“

Ein Anfang. Immer wieder kommen neue Schichten von Groll und Abscheu an die Oberfläche. Wiederholung des Rituals. Anfang und wieder Anfang. „Vergeben braucht seine Zeit. Anstrengung, Schmerz und Wut, die Auseinandersetzung mit der Tat, der ständige Dialog mit Gott gehören dazu. Es dauert und zugleich ist es ein Geschenk. Man kann nicht sicher sein, ob Vergebung gelingt. Man kann nur froh sein, wenn sie gelingt“, ist Collard überzeugt.

Der Mörder hat einen Namen

Vier Jahre dauert das Auf und Ab. „Ich dachte, jetzt habe ich es geschafft.“ Ein Vers im Petrusbrief lässt die Missionarin erneut zweifeln: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt“ (1 Petrus 3,9). „Segnen? Den Mörder meines Sohnes? War Vergeben nicht schon schwierig genug?“ Sie schlägt das griechische Wort für „segnen“ nach. Und da steht: „Segnen“ bedeutet auch „gut über jemanden sprechen“. Ein Wink Gottes? Collard ist davon überzeugt. Im November

1997 wagt sie diesen weiteren Schritt. Der Mörder hat einen Namen, heißt Martin Johanson. Sie spricht ihn laut aus. „Von da an gelang es mir, Gutes über ihn zu reden, Gutes ihm zu wünschen. Ihm einen Namen zu geben, machte ihn menschlich.“

Sie trifft eine Entscheidung. „Ich will Martin einen Brief schreiben!“ Es werden mehrere daraus – inzwischen über 30. Den ersten Kontakt vermittelt ihr Bruder Bernd, der seinen Status als „reisender Gefängnisseelsorger“ nutzt. Er überbringt die Briefe, trifft Martin regelmäßig im Gefängnis.

Zuerst schreibt sie mit dem Computer („Ich brauchte den Abstand.“), später von Hand. Martin antwortet, zeigt Gefühle, steht zu seiner Schuld. Gott, aber auch der Alltag, die beiden Familien prägen die Briefinhalte. Der Kontakt hält. Anfang 2011 berichtet Martin: „Ich habe jetzt eine Beziehung zu Gott. Sie waren diejenige, die mir seine Botschaft überbracht hat. Danke.“

Inzwischen pflegen auch Ehemann Glenn und Tochter Wendy Briefkontakt mit Martin. Dianne und Wendy stehen zudem mit Martins Tochter Carrie in Verbindung.

„Woher weiß ich, dass ich wirklich vergeben habe?“ Collard verweist auf die Anzeichen eines bitteren Herzens – etwa Misstrauen, Ichbezogenheit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen Menschen, Einsamkeit, Entfremdung, Mangel an Verständnis und Einsicht, Zorn und Wut. „Sind diese Zeichen weg, nicht mehr spürbar im Alltag, ist die Vergebung auf gutem Weg“, erklärt sie. Häufig aber scheitere Vergebung auch. „Ganz tief in uns Menschen steckt ein archaisches Bedürfnis nach Rache: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Diesen Kreislauf zu durchbrechen, so Dianne, falle uns unendlich schwer. Oft würden die Vorteile der Vergebung nicht erkannt oder verdrängt: Freiheit, Lebensqualität, die intime Nähe zu Gott.

Martin Johanson, ehemaliger Bauarbeiter, ist zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Bei guter Führung kann er nach 25 Jahren entlassen werden. Das wäre 2014. Laut Collard stehen die Chancen dafür gut.

Dianne spricht bestimmt, aber ruhig und ohne Pathos. Sie sei kein Übermensch. Nein. Sie sei ein ganz „normaler“ Mensch, der neben seiner beruflichen Arbeit gerne mit seinen Enkelinnen spiele, nähe, sticke und gesund koche. Viel Kraft habe ihr auch ihr Mann Glenn gegeben. Er sei den gleichen Weg gegangen – wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten, in Begegnung mit anderen Menschen, vielleicht auch „männlicher“, mit viel Wut, Kontrollverlust. Sie hätten sich aber immer gestützt, inspiriert, seien sich gegenseitig Vorbild gewesen. Glenn bemerkt schmunzelnd: „Sie mehr für mich als ich für sie.“

Beim Signieren ihrer Bücher verrät die Autorin: „Ich wäre nicht überrascht, wenn Martin und ich irgendwann ein gemeinsames Buch schreiben würden.“

Eine Zuhörerin hält Collards neustes Buch „Briefe an einen Mörder“ (Verlag Gerth Medien) in den Händen. Signiert mit Widmung. Zu ihrer Tischnachbarin gewandt meint sie: „Eine unglaubliche Geschichte.“ Die zwei jungen Frauen nicken. Das Buch ist bis jetzt auf Englisch und Deutsch erschienen. Weitere Übersetzungen sind geplant – auf Französisch, Spanisch, Russisch, Finnisch, Arabisch, Rumänisch und Urdu (Pakistan).

Auf Tims Grabstein ist die Inschrift gemeißelt: „Ja, Gott ist gut, auch wenn das Leben oft unfair ist.“ Glenn und Dianne haben diese Botschaft verinnerlicht. Sie ist ihr Lebenswerk. Dafür sind sie rund um den Globus unterwegs. Auch an diesem Samstag. Mit zwei prall gefüllten Plastiktüten marschieren sie durch die vielarmigen Gänge der St. Galler Kantonsschule in Richtung Ausgang – zum nächsten Seminar in Basel.

Xaver Schorno
Erschienen in: stadtgottes 07-08/2012, Das Magazin der Steyler Missionare, www.stadtgottes.de. In: Pfarrbriefservice.de

Hinweis: Ein Bild von Dianne Collard finden Sie hier. 

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Das Schwerpunktthema für April 2015

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Text: Xaver Schorno, www.stadtgottes.de
In: Pfarrbriefservice.de