Mahlzeit für Bedächtigesser – eine Aktion aus Lübeck

Wer kommt noch dazu, aus Respekt vor Gottes Schöpfung und des Menschen Arbeit inne zu halten und in Ruhe zu essen? Es gibt eine weltweite Bewegung, die sich „Slow Food“ nennt. Die mehr als 70.000 Mitglieder wollen Genuss und gesunde Nahrung, Gastfreundschaft und Gesprächskultur wieder miteinander verbinden.

Das Leben ist ein Geschenk. Auf Zeit. Die Spanne zwischen Geburt und Tod so zu nutzen, dass sie mit Fahrt und mit Rast, mit Aus-sich-herausgehen und mit Zu-sich-selbst-finden, mit Geräusch und mit Stille, mit Reden und mit Schweigen, mit Lachen und mit Weinen, mit Alleinsein und mit Gemeinschaft erfüllt ist, heißt, sich dieses Geschenks würdig zu erweisen. Bedeutet, bewusst und mit Bedacht zu leben.

Mit „Slow Food“ gegensteuern

Dem „Schnell, schnell” und dem „Fast Food” gegenzusteuern, haben sich einige Aufrechte auf den Weg gemacht. Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen und haben ein Ziel: die gemeinsame „Mahlzeit” zu fördern. Mahlzeit ist die Zeit, die es braucht, um ein Mahl mit Respekt vor dem, was der Schöpfer darbietet, vor erbrachter menschlicher Arbeit und vor handwerklichem Können einzunehmen.

„Slow Food” nennen es die einen und machen damit deutlich, was ihnen am Herzen liegt. Sie wollen in Ruhe, ganz gelassen speisen. Falls möglich im Rund der Familie oder im Kreis von Freunden. 70.000 Menschen in 42 Ländern tragen die aus Italien stammende Idee.

Zum Mittagessen in die Kirche

In Lübeck leben drei Männer, die einen Teil des Geschehens auf dem Globus mit gleichen Augen sehen und daraus ihre Schlüsse ziehen: Günter Harig, Bernd Schwarze, zwei protestantische Pastoren und Lothar Tubbesing, ein Gastronom. Harig und Tubbesing sprechen seit einigen Jahren in unregelmäßigen Abständen fremde Menschen auf der Straße an und laden sie zu „einem Essen im Südschiff der Petrikirche” ein. Das ist ein Gotteshaus, das seit fast fünfzehn Jahren mit allerlei Grenzgängen zwischen Kirche und Gesellschaft vertraut ist. Ihre Einladungen hätten nicht bei jedem Angesprochenen Erfolg, erzählen sie. „Viele sind misstrauisch. Dass es etwas umsonst gibt, können sich die meisten nicht vorstellen.”

Miteinander ins Gespräch kommen

Vierundzwanzig Personen sollten sich finden, damit ein solches Mittagessen beginnen kann. „Um die zusammen zu bringen, brauchen wir meist nicht länger als eine Stunde”, sagt Harig. Wichtigster Satz, der über jeder dieser „von Lothar Tubbesing aufwändig vorbereiteten und präsentierten Mahlzeiten” steht, ist, so Günter Harig: „Niemand nimmt sich selbst, jeder gibt dem anderen!” Das habe zur Folge, „dass alle von der ersten Minute an miteinander ins Gespräch kommen” - Randständige und Bürger, Alte und Junge, Frauen und Männer, Durchreisende und Einheimische. Je nachdem, wer den zwei Menschenfischern ins Netz gegangen ist. Die wollen den Gedanken, andere bei sich zu Tisch zu bitten, in jedes Lübecker Haus tragen. Tubbesing, Eigentümer des Restaurants „Lachswehr” in Lübeck, Berater der schleswig-holsteinischen Landesregierung in Ernährungsfragen und „Slow Food” - Mitglied spricht am Anfang und am Ende ein Gebet. Harig, der Geistliche, hält während der Tafel eine Tischrede „zu einem Thema, das in der Luft liegt oder in der Luft liegen sollte”. Bernd Schwarze lädt alljährlich zu einem „Osterfrühstück” in Lübecks Marienkirche ein.

Gemeinschaft erleben

Das aus der Petri-Tafel erwachsene Morgenessen - das von 300 Menschen ge- und besucht wird und nach den gleichen Regeln stattfindet - hat sich „geradezu zu einem gesellschaftlichen Event” ausgewachsen, das auch der Arzt Gerrit Rinck, Vorsitzender des „Slow Food”- Conviviums Lübeck, „sehr gern besucht, weil ich dort in der Kirchenbank Gemeinschaft spüre.” Der Einfall stehe „über den Religionen, jeder kann teilnehmen und sich beim Essen friedlich mit seinem Nachbarn auseinandersetzen”, erklärt der „Bedächtigesser”. Was die Initiatoren und ihre Gäste empfinden, habe ein 40-Jähriger mit einer Frage beschrieben, freut sich Günter Harig: „Der sagte im Hinausgehen ‘Was mache ich, wenn ich morgen aufwache und denke, ich habe das nur geträumt?‘“ Das Leben ist ein Geschenk. Und kein geträumtes.

Harjo Seißler
Harjo Seißler ist freier Journalist in München.
aus: Magazin „Andere Zeiten“ 3/2002, www.anderezeiten.de

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Das Schwerpunktthema für September 2009

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Text: Harjo Seißler
In: Pfarrbriefservice.de