Jeder braucht mal Hilfe

Ein Gespräch mit Ulrike Dahme über ihre Arbeit in der Telefonseelsorge

Sie sind da, wenn es Menschen schlecht geht, wenn sie jemanden zum Reden und zum Zuhören brauchen: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge. Rund um die Uhr sind sie telefonisch oder online erreichbar – anonym und verschwiegen. Das ist ein Dienst der katholischen und evangelischen Kirchen in Deutschland. Doch worum geht es bei der Telefonseelsorge konkret? Und wie macht sich Corona bemerkbar? Im Interview erzählt Ulrike Dahme davon. Sie ist Diplomtheologin und stellvertretende Leiterin der Telefonseelsorge der Erzdiözese München und Freising.

Telefonseelsorge – das klingt nach ‚letztem Strohhalm‘, wenn man gar nicht mehr aus noch ein weiß.

Ulrike Dahme: Ja, manchmal ist das so. Entstanden ist die Telefonseelsorge in den USA. ‚Bevor Du Dich umbringst: Ruf mich an‘ – mit diesem Slogan wurde in Telefonzellen dafür geworben. Es gibt tatsächlich Schicksale, da bleibt einem der Mund offen, wenn man davon hört. Das Spektrum der Themen ist ungeheuer weit: Es reicht von Existenzangst wegen Jobverlusts bis zur Internetsucht eines Jugendlichen, vom Anrufer mit pädophilen Neigungen bis zur Studentin, deren Bachelorarbeit gelöscht ist, weil der Rechner abgestürzt ist, vom vermüllten Zuhause bis zu psychiatrischen Erkrankungen. Wir wissen nie, was uns erwartet, wenn wir abheben.

Sollten sich auch Menschen mit vergleichsweise geringeren Problemen trauen anzurufen?

Ulrike Dahme: Unser Angebot richtet sich an alle Menschen, die Hilfe, Unterstützung und Orientierung suchen, übrigens unabhängig von ihrer religiösen Orientierung. Wir bewerten nichts: Jede Sorge und Not kann belastend sein. Die Anrufer bleiben vollkommen anonym – die Telefonnummer wird unterdrückt – absolute Vertraulichkeit und Verschwiegenheit sind zugesichert. Da wir sehr gefragt sind, kann es schon vorkommen, dass Anrufer öfter probieren müssen, bis sie durchkommen. Wir haben auch Anrufer, die sich regelmäßig melden. Wobei – um Abhängigkeit zu vermeiden – kein Anspruch auf einen bestimmten Berater besteht.

Wer ist denn mein Gesprächspartner bei einem solchen Anruf?

Ulrike Dahme: Wir sind ein Team von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern, die sich in intensiver Vorbereitung und durch ständige Weiterbildung für diese Tätigkeit qualifizieren. Aber vor allem sind wir ganz ‚normale‘ Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Manche von uns haben selbst Krisen im Laufe ihres Lebens durchgemacht und kennen bestimmte Probleme aus eigener Erfahrung. Was nicht selbstverständlich ist: Ein Drittel unserer Berater sind Männer. Männer beraten anders als Frauen und das ist gut so.

Aus welcher Haltung heraus erfolgt die Beratung?

Ulrike Dahme: Wir wollen den Anrufern auf Augenhöhe begegnen. In unseren Leitlinien heißt es: Wo sich zwei freie Menschen in ihrer Mitte dialogisch begegnen, ereignet sich Seelsorge. Wir teilen mit den Menschen Trauer und Angst, Freude und Hoffnung. So sind wir Zeugen der Frohen Botschaft, und können vielleicht auch eine neue Erfahrung von Kirche vermitteln.

Das heißt praktisch für die Beratung…

Ulrike Dahme: Es soll den Menschen mit unserer Hilfe gelingen, einen Blick von außen auf ihre Probleme zu werfen. Wir trauen den Menschen zu, eigene Lösungen zu finden. Wichtig ist die Frage: ‚Was bedrängt Sie gerade jetzt im Moment? Und was muss passieren, damit Sie gestärkt durch den Tag gehen?‘ Wenn vieles zusammenkommt, versuchen wir erstmal, gemeinsam zu sortieren, damit der Anrufer wieder handlungsfähig wird. Wir versuchen, in die Schuhe des anderen zu steigen, ergebnisoffen mitzugehen. Wir bestärken, und wenn nötig, halten wir auch mal ganz sanft den Mantel der Wahrheit zum Reinschlüpfen hin.

Vermitteln Sie auch weiter?

Ulrike Dahme: Bei Bedarf verweisen wir an geeignete Fachberatungsstellen wie Suchthotline, Jugendsozialstelle, Frauennotruf, Eheberatung … In München sind wir mit solchen Angeboten sehr gut aufgestellt. Wir schließen praktisch die Lücke zwischen dem psychosozialen Netzwerk der Kirche mit seinen vielen Angeboten und der Seelsorge. Medizinisch beraten dürfen wir nicht, wir können nur den Gang zum Arzt oder Therapeuten empfehlen.

Erhalten Sie zu manchen Tageszeiten verstärkt Anrufe?

Ulrike Dahme: Unsere Telefone sind rund um die Uhr besetzt. Vor allem abends zwischen 17 und 22 Uhr erfolgen viele Anrufe. Aber auch bis nach Mitternacht – dann meist Krisenanrufe. Nachts verhindert die Körperbiologie die wirkliche Lösung von Problemen. Es geht hier eher darum, Seelenmüll loszuwerden, gemeinsam zu versuchen, das Gedankenkarussell anzuhalten. Bei Anrufen von Suizidalen besteht die akute Gefahrensituation erfahrungsgemäß oft nur wenige Stunden. Da ist es wichtig, dass jemand da ist, die Gedanken mit aushält und an der Seite bleibt.

Und in der dunklen Jahreszeit ist sicher auch mehr Bedarf.

Ulrike Dahme: Das meint man. Sicher, an Weihnachten, da ist bei manchem die Einsamkeit groß. Oder auch nach den Feiertagen, wenn die Besucher wieder fort sind. Rund um den Muttertag - da geht es um Beziehungsthemen. Aber Depressionen äußern sich oft auch im Frühjahr bei strahlend blauem Himmel, wenn der Gegensatz zwischen Äußerem und innerem Erleben groß ist.

Welche Menschen rufen bei Ihnen an?

Ulrike Dahme: Quer durch alle Bevölkerungsschichten. Die jungen Leute von 20 bis 30 Jahren nutzen eher unser Chat- und E-Mail-Angebot. Beides ist noch anonymer – hier sind vor allem auch schambesetzte Themen angesiedelt – und beides hat besondere Qualitäten. Chats erfolgen schnell und sind daher sehr dicht. E-Mails sind auch ein kreativer Selbstausdruck, haben eine Art Tagebucheffekt. Indem man schreibt, reflektiert man sich selbst und man kann es nachlesen. Manchmal genügt es schon, selbst etwas schriftlich in Worte zu fassen, um sich über ein Problem klarzuwerden. Telefon – Chat – E-Mail: Das befruchtet sich gegenseitig.

Haben sich die Themen in Zeiten der Corona-Krise verändert?

Ulrike Dahme: Wir erhalten mehr Anrufe als vor der Krise. Die Themen sind grundsätzlich nicht neu, aber viele eskalieren. Für psychisch labile oder kranke Menschen kann die Krise als Taktverstärker wirken. Es geht um Einsamkeit, psychische Beschwerden, Existenzängste, Beziehungsprobleme. Ängste werden durch die Informationsflut der Medien und Verschwörungstheorien geschürt. Depressiven fehlt die Normalität, die Tagesstruktur. Für psychisch Kranke ist der Besuch beim Therapeuten jetzt eventuell nicht möglich. Junge Leute rufen vermehrt an mit Selbstverletzungsneigung oder Selbstmordgedanken. Die Krise kann aber auch Katalysator sein: Jetzt ist vielleicht der Zeitpunkt, sich Hilfe zu holen, wenn es einem schon länger schlecht geht. Bei den Chats erleben wir aufgrund des engeren Zusammenseins vielfach Paar-, Familien- oder Generationenkonflikte. Wir hoffen, dass sich die Lage wieder beruhigt, wenn Krisendienste und Therapeuten wieder verfügbar sind.

Wie gelingt es Ihnen persönlich, mit dem Leid umzugehen, das Ihnen da täglich begegnet?

Ulrike Dahme: Das ist sicher oft schwer, aber man lernt auch über sich selbst viel, reflektiert sich selbst. Und es macht auch Spaß, nicht alles ist niederschmetternd. Mit manchen Anrufern ist man ja schon vertraut, lacht auch viel zusammen. Menschen haben ja viele Talente, sie können liebenswürdig sein, kreativ – und vor allem auch humorvoll!

Interview: Gabriele Wenng-Debert
Quelle: impulse. Magazin der Pfarrei St. Johann Baptist Gröbenzell, Sommer 2020, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Gabriele Wenng-Debert, Quelle: impulse. Magazin der Pfarrei St. Johann Baptist Gröbenzell, Sommer 2020
In: Pfarrbriefservice.de