Familie im Übergang - Das f(r)u(r)chtbare Chaos

Hinweis für die Pfarrbriefredaktion:

Dieser Text ist sicher nicht geeignet für einen vollständigen Abdruck im Pfarrbrief. Deswegen hat der Autor ausdrücklich die Genehmigung erteilt, ihn redaktionell zu bearbeiten, zu kürzen, Auszüge wiederzugeben oder ihn schlicht als Anregung für einen eigenen Artikel mit Erfahrungen aus dem persönlichen Umfeld zu nehmen.

Bernhard Riedl

Familie im Übergang - Das f(r)u(r)chtbare Chaos

"Musste dies nicht alles so geschehen?" - nach dem Lukasevangelium

Man trifft sich mit Kolleginnen und Kollegen, die in der Familienarbeit oder Familienberatung engagiert sind zu einer Konferenz. In einer Zwischenbemerkung in der Pause lässt man fallen, dass es zuhause mal wieder Stress gibt mit der 17jährigen Tochter.

Abends beim Wein fragt eine Kollegin, die eine gleichaltrige Tochter hat, neugierig nach, andere horchen auf, und es entwickelt sich ein Gespräch über die elterlichen Mühsale im Umgang mit den flügge werden Kindern: Es geht um Grenzen setzen, Themen wie abendlicher Ausgang und „Zapfenstreich“, Übernachtung beim Freund, Urlaub mit dem Freund, Sex und Verhütung, Mitarbeit im Haushalt, gemeinsame Mahlzeiten usw.

Offensichtlich geht es allen, die in dieser Phase sind, ähnlich, die meisten fühlen sich oft gestresst, irritiert, verunsichert, erleben sich nicht selten als hilflos, rat-los. Das Gespräch tut dennoch gut: Es geht mir nicht alleine so; die anderen „kochen auch nur mit Wasser“, selbst wenn sie „Fachleute“ sind und um die Wirren solcher Lebenssituationen wissen.

Wie kommt es, dass wir in bestimmten Phasen unseres Familienlebens so an unsere Grenzen kommen, dass es so anstrengend und manchmal chaotisch zugeht, egal ob wir durch Bücher, Kurse, Fachwissen „vorbereitet“ sind oder nicht?

Liegt es an unserer mangelnden Kompetenz, an unseren Fehlern, an unseren schwierigen Kindern?

In der Tat, wenn ich Familien in solchen Situationen berate, neigen die einzelnen Familienmitglieder zunächst oft dazu, die auftretenden Turbulenzen vor allem sich selber oder einander persönlich zuzuschreiben, als persönliches Versagen, mangelnde Bereitschaft, schlechte Eigenschaften.

Wenn ich dann nachfrage: Was denken Sie, wie das in anderen Familien aussieht?, heißt es oft: “Nun ja, bei den Müllers geht es ganz ähnlich zu ... und erst bei den Meiers, da ist regelrecht der Teufel los!“

Eine solche Einsicht, dass es das wohl häufiger gibt, vielleicht ja irgendwie normal ist, gibt den Betroffenen „Luft“ und es gelingt ihnen, auch wieder Zugang zu ihrer Handlungskompetenz zu finden und sich auf die Suche nach Lösungsmöglichkeiten zu machen: Wer sich selbst schlecht und inkompetent fühlt, wer sich zum Versager stempelt oder stempeln lässt, entwickelt selten die Kraft und die Kreativität, etwas zu verändern, Schwierigkeiten zu meistern.

Bei solchen Familienturbulenzen geht es oft um krisenhafte Übergänge, und die Turbulenzen liegen dann schlicht in der Natur der Sache und haben nicht primär ihren Ursprung in der Inkompetenz der Betroffenen. So ist zum Beispiel selbst die Delinquenz eines Jugendlichen nicht unbedingt Ausdruck einer kriminellen Energie, sondern ein – zugegeben schwieriger – Aspekt (Signal) einer familiären Übergangssituation, in der die Eltern und Jugendliche um eine (gute) Ablösung ringen.

Um solche Situationen zu verstehen und zu entdramatisieren – dabei geht es nicht um Beschönigen, sondern darum, Handlungsfreiheit wiederzugewinnen - , ist mir eine Idee aus den Systemwissenschaften sehr hilfreich geworden:

Lebendige (sog. dynamische) Systeme – Familien sind solche Systeme - , zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich durch das Zusammenspiel ihrer Elemente (Mitglieder), durch eingespielte „Spiele“ (Interaktions-, Kommunikations-, Austauschmuster) in einem lebendigen Gleichgewicht, d.h. am Leben erhalten.

Veränderungen im System, Störungen von außen, die das System in Bewegung, aus dem Gleichgewicht bringen, werden im Zusammenspiel der Elemente aufgefangen, indem mit etwas „Arbeit“ die „alte Ordnung“ wiederhergestellt wird. (wenn es dem Körper zu heiß wird – Sonne! - , reagiert er mit Schwitzen) Oder das System reagiert indem es sein „Spiel“ leicht modifiziert, ohne es grundlegend zu verändern. (So dürfen Frauen in der Katholischen Kirche zwar nicht Priesterin werden, aber Vorsitzende im Pfarrgemeinderat)

Es können aber auch Situationen eintreten – und das ist erwartbar und normal – ,in denen Veränderungen im System durch interne Entwicklungsprozesse oder durch „Verstörungen“ von außen so stark sind, dass das System bei bestem Willen und größter Anstrengung sein altes Gleichgewicht nicht wieder herstellen kann: Das alte Spiel, das bisher gut funktioniert hat, passt nicht mehr. Das System sieht sich veranlasst, neue Muster, ein anderes Spiel mit neuen Spielregeln zu entwickeln, damit es gut weiterleben kann. Alle Systeme haben diese Potenz, wie die Entwicklung des Lebens beweist.

In Familien kommt es zu solchen krisenhaften Übergängen, wenn z.B. das erste Kind das Paarsystem zu einem Familiensystem verändert (und es ist eher erstaunlich, wie gut in der Regel Eltern und Kind damit klarkommen!), wenn ein Mitglied der Familie durch Tod oder Auszug das System verlässt, wenn eine schwere, lange Krankheit oder eine Notlage wie z.B. Arbeitslosigkeit in das System „eintritt“.

Solche Ereignisse (Krise=Übergang) fordern Familiensysteme heraus, neue Formen des Miteinanders und des Zusammenspiels, neue Regeln zu entwickeln, zu erstreiten (vgl. Ausgangsregeln für die Jugendlichen) und auszuprobieren (oft genug durch „Versuch und Irrtum“), bis sich ein neues, stabiles, tragfähiges Familienmuster entwickelt hat.

Der Übergang aber vom alten Systemzustand (Familie MeierA) zum neuen Systemzustand (Familie MeierB) ist notwendigerweise (!) gekennzeichnet von Irritation, Chaos, Anstrengung, Stress, Unsicherheit, Desorientierung: Das Alte passt nicht mehr – aber dass neue ist noch nicht gefunden.

Die Tatsache solcher Turbulenzen ist also kein Indiz für die Schwäche des Systems, seine Schwäche und Stärke zeigt sich vielmehr darin, wie es mit den Turbulenzen umgeht.

Der Übergang im „Niemandsland“ ist anstrengend und darf auch als anstrengend und lästig beklagt werden, er kann aber auch als Chance auf etwas Neues aufgegriffen werden: Es gibt keine Geburt ohne Wehen und Schmerzen, aber wenn das Kind da ist ....!

Vielleicht können Familien im Übergang die folgende Überlebensregeln helfen:

• Gestehen Sie sich zu, dass Chaos und Stress in ihrem familiären Übergang normal sind, dass darüber Klagen erlaubt ist.

• Mit anderen Betroffenen darüber erzählen entlastet: Wir sitzen im selben Boot!

• Im Blick auf das, was Sie als Familie schon geschafft haben, dürfen Sie auf Ihre Fähigkeit, das Neue zu finden, bauen.

• Manche Irritationen (sicher nicht alle!), dürfen Sie auch einmal mit Humor betrachten. (z.B. „Hugh“-Runde für Eltern: Jeder/Jede darf sich reihum über etwas beklagen, was ihn bei den Kindern momentan furchtbar nervt. Alle, die sich auch betroffen fühlen sagen laut im Chor (als weise IndianerInnen): „Hugh!“)

• Entwickeln Sie Geduld: Konstruktives (neues) braucht (immer) Zeit.

• Denken Sie manchmal im Tumult daran, wie Ihr Leben und das Ihrer Kinder wohl in fünf Jahren aussehen wird, das wird das gegenwärtige „Drama“ nicht selten relativieren.

• Sie dürfen sich bewusst machen, Ihre gegenwärtige Situation besteht nicht nur aus Stress und Chaos. Es gibt auch Ausnahmen. Achten sie auf die Ausnahmen! Das Anstrengende macht sich von selber bemerkbar.

• Schreiben Sie auf ein Blatt für jedes Ihrer Kinder fünf Eigenschaften, Fähigkeiten, die Sie besonders an ihnen schätzen, und legen Sie dieses Blatt auf Ihren Nachttisch. Bei großen oder auch kleinen familiären Turbulenzen lesen Sie dieses Blatt vor dem Einschlafen (und denken nicht weiter darüber nach)

• Gönnen Sie sich als Einzelne®, als Paar, als Familie immer wieder etwas Gutes. Schaffen Sie sich angenehme, stressfreie Inseln. Es ist erlaubt, das Chaos – ohne aufzuräumen – für eine Zeit zu verlassen und etwas Schönes zu genießen. Damit verdrängen und verschleiern Sie nicht Ihre Realität, sie schaffen und erleben eine Realität, die genauso wirklich ist wie Ihr Chaos.

• Sie dürfen sich aber auch manchmal gelähmt, hilflos, tief traurig fühlen. Wenn Sie sich dann Hilfe (auch professionelle Hilfe) gönnen, ist dies ein Zeichen Ihrer Kompetenz, etwas Neues zu finden.

Hans-Jakob Weinz

Verknüpft mit:

Das Schwerpunktthema für Januar 2007

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Text: Hans-Jakob Weinz
In: Pfarrbriefservice.de