„Die Unverbindlichkeit ist da, aber wir können daraus Glücksmomente ziehen, indem wir immer wieder überraschende Momente von Verbindlichkeit erleben."

Ein Interview mit Fabian Neidhardt - lange Version

Straßenpoet, Sprecher und Botschafter des Lächelns. Fabian Neidhardt. Er machte ein Volontariat zum Redakteur und Moderator bei Radio ENERGY Region Stuttgart und studierte Sprechkunst und Kommunikationspädagogik sowie Literarisches Schreiben. Heute veröffentlicht er unter anderem in Magazinen, schreibt Bücher, spricht auf der Bühne, gibt Workshops und arbeitet für den SWR. 2017 trat er mit seinem Vortrag „Die Vielleicht-Ära. Unverbindlichkeit im Alltag“ bei der „TINCON“ (teenageinternetwork convention) in Hamburg auf. Ein Gespräch mit Fabian Neidhardt über Pflaumenbäume, Verbindlichkeit und Glück.

„Generation Maybe“, „Generation Vielleicht“, „Generation Unverbindlichkeit“. Zu ihr sollen alle Menschen zwischen 20 und 35 Jahren gehören. Sie sollen unentschlossen sein, überfordert und unverbindlich. Herr Neidhardt, bei Ihrem Auftritt auf der TINCON in Hamburg distanzieren Sie sich von diesem Begriff. In Ihren Augen hat Unverbindlichkeit nichts mit einer Generation zu tun. Es ist ein Zeitgeist.

Fabian Neidhardt: Ich glaube, ein großer Grund dafür, dass wir unverbindlicher geworden sind, sind die gesteigerten Möglichkeiten, die wir haben.

Warum?

Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, die vor 70 Jahren in Deutschland groß geworden ist. Sie hatte sehr beschränkte Möglichkeiten eine Arbeit zu finden, weil ganz andere Dinge von ihr erwartet wurden. Heutzutage sind wir an dem Punkt, an dem die Menschen glücklicherweise alles machen können. Dogmen, die früher festgesetzt waren, weichen heute auf. Das ist eine Freiheit, die wir im Laufe der Jahrzehnte gewonnen haben. Sie gibt den Menschen die Möglichkeit, Dinge zu tun, nach denen sie innerlich streben. Das finde ich sehr gut. Ich wünsche es jedem.

Freiheiten zu haben, bedeutet aber, mehr Entscheidungen treffen zu müssen.

Genau, wir müssen uns mehr Fragen stellen als früher und uns mit mehr Optionen auseinandersetzen. Durch diese vielen Möglichkeiten habe ich das Risiko, mich falsch zu entscheiden. Und damit ein höheres Potential zu scheitern. In dem Moment, in dem ich mich nicht entscheide, kann ich mich nicht falsch entscheiden. Ich versuche nicht zu scheitern und ziehe mich deswegen in eine Unverbindlichkeit zurück.

Wenn Menschen keine Entscheidungen mehr treffen, lähmt sie das.

Diese Idee, dass zu viele Möglichkeiten uns Menschen einschränken und lähmen können, die ist nicht neu. Es gibt in der „Glasglocke “ von Sylvia Plath aus den 1960ern die Metapher eines Pflaumenbaums. Darin sitzt die Protagonistin. Jede Pflaume stellt für sie eine Option dar, was sie mit ihrem Leben machen kann. Sie kann sich nicht entscheiden und deswegen verfaulen alle Pflaumen.

Vielleicht hat sie Angst, etwas zu verpassen? Genau, wie die Menschen heute.

Auf jeden Fall. Es gibt im Englischen genau diesen Begriff: "fear of missing out“. Wenn ich zum Beispiel eine Woche in Berlin bin, möchte ich das größtmögliche mitnehmen. Wenn Freunde sagen: „Hey, ich hätte Zeit“, ist das total schön, aber vielleicht kommt noch etwas Besseres und deswegen sage ich erstmal nicht zu. Ich glaube aber, dass größtenteils nichts Besseres kommen wird. Man kann sich nicht entscheiden, bis der Moment vorbei geht.

Früher wussten die Menschen nur von den Veranstaltungen, die in ihrem Freundeskreis stattfanden. Durch die Sozialen Medien ist das anders geworden.

Heute werde ich über das Internet davon überschüttet, wie großartig eine Veranstaltung war, auf der ich nicht war. Denn das Zelebrieren von Momenten und das Festhalten durch Fotos ist heute viel stärker geworden. Das ist auf der einen Seite schön. Auf der anderen Seite kann es dieses Gefühl von: „Ich habe etwas verpasst“, stärken.

Die technischen Möglichkeiten haben sich nun einmal weiterentwickelt.

Ja, wenn ich mich damals als Kind verabredet habe, habe ich in der Schule abgemacht „Wir treffen uns um 17 Uhr beim Dicken“. Und dann war ich um 17 Uhr beim Dicken. Wenn mein Gegenüber nicht da war, hatte ich ein Problem. Heutzutage können wir anders und viel schneller auf Dinge reagieren. Diese Reaktionsgeschwindigkeit erlaubt es uns, unverbindlicher zu sein.

Dann ist Unverbindlichkeit heute ein anderer Begriff für Unzuverlässigkeit.

Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, man kann auch verbindlich unverbindlich sein (lacht). Unzuverlässigkeit ist fast das Gegenteil. Unzuverlässigkeit kommt durch ein nicht Einlösen von Aussagen. Wenn ich sage, ich komme um zehn und komme um zwölf, dann bin ich unzuverlässig. Unverbindlichkeit macht das Gegenteil. Ich sage nicht mehr, wann ich komme, sondern ich sage: „Ich glaube“ oder „Ich könnte“. Damit nehme ich die feste Aussage aus der Aussage. Ich verweichliche sie. Und später kann mir keiner vorwerfen, dass ich unzuverlässig bin, weil ich nie fest zugesagt habe.

Das führt zu der Situation, dass ich zu einer Geburtstagsfeier einlade. Von meinen Gästen jedoch bis kurz vorher keine eindeutige Zusage erhalte. Stattdessen ein: „Vielleicht“, „mal schauen“, „ich weiß noch nicht“. Macht Unverbindlichkeit Freundschaften, Beziehungen kaputt?

Instinktiv wollte ich „ja“ sagen. Aber ich bin mir nicht sicher. Einerseits schon, so wie sie überall etwas kaputt machen kann. Auf der anderen Seite glaube ich, dass die Art, wie wir Beziehungen pflegen durch das Internet eine andere geworden ist. Dass wir Beziehungen breiter pflegen, mit mehr Menschen und dass wir auf eine gewisse oberflächliche Art in Kontakt sind.

Ist das gut? Viele, dafür oberflächliche Beziehungen?

Über Facebook habe ich zum Beispiel das Gefühl, dass ich mit ganz vielen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, in Kontakt bin. Weil ich sehe, welche Statusmeldungen durchlaufen. Ich habe eine Ahnung davon, was in deren Leben passiert. Das ist viel mehr, als es früher der Fall war. Und ich bin überrascht, wie verbindlich diese Art der sehr unverbindlichen Verbindung in den sozialen Medien sein kann.

In wie fern?

Ich suche zum Beispiel einen Schlafplatz in Wuppertal und kenne dort niemanden persönlich. Über solche Netzwerke arbeiten sich plötzlich verbindliche Kontakte heraus.

Dennoch leben die Menschen in einer Zeit der Unverbindlichkeit. Was werden sie an die nächste Generation weitergeben?

Die Unverbindlichkeit wird noch schlimmer werden und wir müssen dagegen steuern. Aber, ich glaube, dass wir irgendwann einen Punkt erreichen, an dem wir so unverbindlich sind, dass die folgende Generation von sich aus entgegensteuert.

Die bekannte Sinuskurve?

Ja genau.

Schwer vorstellbar. Heutzutage gilt Verbindlichkeit als altbacken.

Das ist richtig. Aber wie jedes andere Altbackene wird auch die Verbindlichkeit zurückkommen und nicht mehr altbacken sein.

Dabei leben wir in ungewissen und unruhigen Zeiten. Verbindlichkeit könnte den Menschen Sicherheit geben, Halt.

Ja, auf jeden Fall. Wenn wir ehrlich sind: Alles ist ungewiss. Besonders in dieser Zeit, in der wir extrem schnelllebig sind, in der sehr viel passiert. Ich glaube, dass Verbindlichkeit dort dagegen strömt und so etwas, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung ist.

Eine selbsterfüllende Prophezeiung?

Wenn ich ein Projekt angehe, eine Arbeitsstelle oder eine Beziehung, und von vornherein sage: „Mal gucken, wie das wird“, dann ist die Gefahr größer, dass dieses Projekt scheitern wird. Weil ich mir diese Unverbindlichkeit frei halte. Ich glaube, es festigt ein Projekt, eine Beziehung, ein Sich Einbringen in jeder Art, wenn ich sage: Auch, wenn ich diese Arbeit oder diese Beziehung höchstwahrscheinlich nicht bis zum Ende meines Lebens haben werde, ich arbeite und lebe auf die Art, dass ich es haben kann.  

Aber das ist doch naiv!

Das ist ähnlich, wie im Sport. Ein Springer weiß um sein höchstes Pensum. Aber er probiert bei jedem Mal weiter zu springen, um das Höchstmögliche auszureizen. Auch, wenn er von vornherein weiß, dass er nicht so weit springen kann, wie er will. Durch seinen Willen etwas nicht Schaffbares, schaffen zu wollen, kommt er so weit, wie er kommen kann. Ich strebe nach dem Unmöglichen, um das Höchstmögliche zu erreichen.

Das ist eine Haltung, eine Einstellung.

Ja auf jeden Fall, natürlich. Eine paradoxe Verbindlichkeit in einem Feld, in dem wir keine Verbindlichkeit haben. Das gilt für Projekte, Beziehungen oder das Leben.

Trotzdem scheinen viele Menschen Angst vor Verbindlichkeit zu haben. Ein Beispiel: Meine Freunde erhalten eine Einladung zu einer Veranstaltung. Sie wissen von Vornherein, dass sie nicht hingehen werden. Anstatt abzusagen, verstecken sie sich hinter unverbindlichen Aussagen.

Oft wollen die Menschen ihre Entscheidung nicht sagen. Aus Angst, um höflich zu bleiben und weil keine Nachfragen kommen. Es ist einfacher zu sagen: „Ich guck mal, ob ich komme“, anstatt: „Ich will an dem Abend nicht ins Theater, weil ich Theater langweilig finde“. Oder: „Ich werde nicht auf die Party kommen, weil ich die Leute nicht mag.“

Das bedeutet: Verbindlich sein ist anstrengend.

Ja, ich glaube, dass Verbindlichkeit anstrengend ist. Dass es Energie kostet, Aufmerksamkeit und Zeit, sich verbindlich mit Dingen auseinanderzusetzen. Ganz egal, ob ich E-Mails beantworte, jemandem zum Geburtstag gratuliere oder Rückmeldungen zu Texten gebe. Wenn ich höflich und müde bin, kann ich sagen: „Das ist total nett, mach weiter so“. Ich wimmle die Leute auf die schnelle, aber höfliche Art ab. Oder ich nehme mir die Zeit und melde ehrlich und respektvoll zurück, was das Problem ist oder was gut gelaufen ist. Das kostet Energie, aber ich glaube, Menschen können daraus mehr ziehen.

Aber es kostet Mut, denn die Menschen müssen Verantwortung übernehmen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich verbindlich reagiere, dann wird das in den meisten Fällen positiv aufgenommen. Ich war überrascht, wie einfach es ist, die Wahrheit zu sagen, anstatt mich in die Höflichkeitslüge, Bequemlichkeitslüge, Alltagslüge zurück zu ziehen.

Was würden Sie sagen: Sind Menschen, die verbindlich leben, glücklicher?

Ich glaube, dass Verbindlichkeit Menschen glücklicher machen kann. Ich würde aber nicht sagen, dass die Unverbindlichkeit Menschen unglücklicher macht. Die Unverbindlichkeit ist da, aber wir können daraus Glücksmomente ziehen, indem wir immer wieder überraschende Momente von Verbindlichkeit erleben.

Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ronja Goj
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