Der verwundete Gott – ein krisenerprobter Perspektivwechsel

„Wird wieder alles so, wie es einmal war?“ Kaum eine andere Frage geht den krisengebeutelten Menschen unserer Tage öfters über die Lippen als diese. Aufgewühlt blicken sie auf zermürbende Wochen und Monate zurück. Fast zweckoptimistisch wird der Fokus auf das Kommende gelegt – in der Hoffnung, dort so viel Vertrautes wie möglich wiederzuentdecken. Doch ist das realistisch? Vermutlich eher nicht. Diese Vorahnung schwingt in der eingangs aufgegriffenen Frage bereits mit.

Mit Sicherheit lässt sich in den meisten alltäglichen Abläufen wieder eine sich bewährende Routine einstellen. Die gesellschaftlichen Krisenmechanismen haben schließlich funktioniert. Trotzdem tritt in all unserem künftigen Tun eine gewisse ‚Unverfügbarkeit‘ (Hartmut Rosa) zum Vorschein. So sehr wir uns auch darum bemühen, sämtliche Bereiche des Lebens wissenschaftlich zu erforschen, ökonomisch zu erschließen, politisch zu regulieren und rechtlich abzusichern, so wenig wird es uns gelingen, das Negative gänzlich zu eliminieren. Vielmehr haben Viren nochmals in besonderer Schärfe offengelegt: Jedes menschliche Leben ist und bleibt verwundbar.

Mit Krisenphänomenen kennen wir uns ja inzwischen bestens aus: der Diesel, das Klima oder die Digitalisierung lassen wahlweise grüßen. Allerdings gelang es bislang, die Welt da draußen möglichst weit wegzuhalten und das Glück in unserem je eigenen Auenland zu suchen. Die Corona-Krise hingegen konfrontierte ausnahmslos jede und jeden mit der Brüchigkeit des eigenen Lebens.

Solche Ambivalenzen menschlicher Existenz sind für Theologie und Kirche eigentlich nicht überraschend. Aus ihren langen Traditionen ist ihnen das Dilemma zwischen Größe und Grenze des Menschen bewusst. Dennoch verhielten sich beide in den vergangenen Monaten augenscheinlich sehr ruhig – für manchen neutralen Beobachter sogar zu ruhig.

Nicht überstürzt oder mit schrägen Positionen an die Öffentlichkeit zu gehen, ist vollkommen richtig und absolut redlich. Dennoch wirkt es bis heute so, als wären Theologie und Kirche im gesellschaftlichen Spektrum nicht antreffbar gewesen. Worin liegen die Gründe dafür? Befürchtete man etwa, bestätigt zu bekommen, überflüssig zu sein und ausgedient zu haben? Oder ließ die derzeitige Krise auch unsere bisherigen Antwortversuche verstummen? Denn seit Corona steht fest: Jede billige und halbherzige Vertröstung, wonach es der liebe Gott schon irgendwie richten wird, verbietet sich. Stattdessen bedarf es eines intensiveren Austausches darüber, wie angesichts zahlreicher Krisen lebensdienlich von Gott gesprochen werden kann.

Die aktuelle Situation verändert somit Theologie und Kirche – anders ließe sich christliche Zeitgenossenschaft auch gar nicht denken (vgl. AG 11-12). Wer sich zu einem kritisch-konstruktiven Gegenwartsbezug verpflichtet, kann die ‚Zeichen der Zeit‘ nicht einfach ausklammern. Infolgedessen ergibt sich der Auftrag, die eigene Verkündigung näher zu analysieren und neue Akzente zu setzen – bescheidener und ehrlicher, weniger lehrend und mehr lernend, an den klassischen Orten der Verkündigung ebenso wie am Küchentisch, am Lagerfeuer oder am Tresen an der Bar.

Womöglich lässt sich ein schöpfungstheologischer und paulinischer Faden für die heutige Zeit neu weiterspinnen: Nach christlichem Verständnis ist die Welt mitsamt ihren Ordnungen kein selbstverständliches faktum, sondern ein donum, das heißt eine von Gott gewollte und geschenkte Gabe an den Menschen. Dieser darf sie in freiheitlicher Eigenverantwortung weiter gestalten. Gott hat sich dadurch gewissermaßen selbst eine Grenze gesetzt, um menschliche Freiheit zu ermöglichen – mit all den dazugehörigen Konsequenzen und Risiken.

Dennoch ist er kein weltenthobener Herrscher geworden, sondern bleibt ein treuer Partner des Menschen – selbst bis in den dunkelsten aller Abgründe hinein: den Tod. Im Kreuzestod Jesu von Nazareth hat sich niemand geringer als Gott persönlich verwunden lassen (Jürgen Moltmann). Mit seinem Tod wird deutlich: Er ist sowohl All-Macht als auch All-Leid. Demnach finden sogar Leid und Tod in Gott ihre letzte Bestimmung.

Für den Apostel Paulus stellt das Kreuz daher nicht weniger als den Wendepunkt der Geschichte dar (vgl. Röm 14, 17; Gal 5, 22; 1 Thess 1, 6): Seit Tod und Auferstehung Jesu gibt es nämlich keine Zeit mehr, die nicht auch Gottes Zeit wäre. Jeder Augenblick – so bitter und dunkel oder so hell und freundlich er auch sein mag – ist zugleich durchtränkt von seiner verwandelnden Anwesenheit.

Eine derart erlösende Lebenseinstellung vermag es, das Leben von morgen selbst in so manchen Widrigkeiten zu bejahen. Aber auch das hat Corona gezeigt: Diese christliche Option kann (!) zur Bereicherung werden, sie muss es jedoch nicht.

Philip Theuermann, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Philip Theuermann
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