Dankbar für die Möglichkeit eines Abschiedsgesprächs

Interview mit Dr. Thomas Kroll, Leiter der AtriumKirche, über Kirchenaustritte in Bremen

Dr. Thomas Kroll ist Leiter der AtriumKirche, des Informationszentrums der Katholischen Kirche in Bremen. Katholiken, die aus der Kirche austreten wollen, können das dort tun. Diejenigen, die wieder eintreten möchten, werden an die jeweiligen Wohnortpfarrer vermittelt. Über diese Bremer Besonderheit und über seine Erfahrungen berichtet Dr. Thomas Kroll in einem Interview.

Herr Kroll, mit wie vielen Austretenden und (Wieder-)Eintretenden haben Sie im Jahr zu tun?

Dr. Thomas Kroll: Im Jahr 2007 standen im Dekanat Bremen 386 Austritten 36 Wiedereintritte gegenüber, ferner 33 Übertritte sowie 21 Taufen von Erwachsenen. Im Jahr 2008 traten im Dekanat Bremen 445 Menschen aus der Katholischen Kirche aus und 34 wieder ein. Es gab 22 Konversionen und 14 Erwachsenentaufen. Im Jahr 2009 wählten 485 Personen den Austritt aus der Katholischen Kirche, 27 kehrten zurück. 16 Personen traten über zum katholischen Glauben und neun Erwachsene ließen sich taufen. Bis Oktober 2010 haben im Dekanat Bremen bereits 576 Menschen einen Kirchenaustritt vollzogen. Die eine Hälfte der Austretenden vollzieht diesen Schritt im Bremer Standesamt, die andere – zum Teil auch aus Kostenersparnis – im AtriumKirche. Dort habe ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen die Möglichkeit, die Austrittswilligen in ein Gespräch zu verwickeln und so zu erfahren, was sie jeweils zu diesem Schritt bewegt.
Einflechten möchte ich an dieser Stelle: Eine meiner Kolleginnen und der Pfarrer der gegenüberliegenden Propsteikirche St. Johann führen alljährlich zwei Glaubenskurse für Erwachsene durch. Es kommen circa zwanzig Personen zusammen, die nach dem Glauben fragen, die mehr vom christlichen Glauben katholischer Ausprägung wissen und erleben möchten. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg, und rund drei Monate später feiert man gemeinsam mit dem Bischof die Sakramente des Christwerdens, sei es die Firmung, sei es Taufe, Firmung und Erstkommunion.

Weshalb treten Menschen Ihrer Erfahrung nach aus der Kirche aus?

Dr. Thomas Kroll: Die Gründe sind vielfältig. Es gibt zum Beispiel den Fußbodenleger lateinamerikanischer Herkunft, der sich selbstständig machen muss, um nicht arbeitslos zu werden. Ihn plagen finanzielle Nöte wie viele andere Menschen auch. Da wird dann an der Kirchensteuer ebenso gespart wie etwa an Gewerkschaftsbeiträgen. Daneben gibt es aber auch die Besserverdienenden, die im Extremfall monatlich einen vierstelligen Betrag an Kirchensteuern zahlen müssen – und dies als zuviel empfinden. Leider gibt es bei diesen und allen anderen Fällen keine Möglichkeiten für einen finanziellen Kompromiss. Etliche Menschen sind auch nicht bereit, das so genannte Kirchgeld zu bezahlen. Das wird fällig, wenn der Erwerbstätige von zwei Eheleuten aus der Kirche ausgetreten ist, der nicht arbeitende Partner aber weiterhin katholisch bleibt. Da sitzt mir so manche Frau gegenüber, von ihrem Mann geschickt, mit Tränen in den Augen.

Nicht zu übersehen ist: Sehr viele, gerade auch jüngere Menschen haben seit Jahren keinen Bezug mehr zur Katholischen Kirche. Für sie sind der Beginn des Erwerbslebens oder manch anderer äußerer Grund willkommener Anlass, den endgültigen Abbruch der Beziehung zu dokumentieren.

Hier und da erlebe ich auch Kuriosa: Es gibt Menschen, die treten kurzfristig in die Kirche wieder ein, um Pate zu werden und vorab eine Taufbescheinigung zu erhalten – und kehren wenig später der Kirche den Rücken. Ich erkenne das anhand der Meldedaten, spreche dies beim Austrittsgespräch gerne direkt an, merke dann aber, dass meine Gegenüber weder meinen Argumenten noch meiner Logik folgen (wollen).

Noch zwei Beispiele: Es gibt eine Reihe von gebildeten Frauen, die für sich und andere Frauen in der Kirche nur Mitsprachemöglichkeiten zweiter Klasse sehen, keine Zugänge zum Amt, zur Macht. Die muss ich ebenso verabschieden wie etwa Insider, die die restaurativ-orientierte Steuerung des Großtankers Kirche aus guten Gründen nicht mehr mit verantworten wollen. Beide Gruppen verstehen sich – wie viele andere auch – weiterhin als Christen, sehen jedoch keine Chancen, selbst aktiv innerhalb der Kirche die kirchliche Großwetterlage zu verbessern, und wollen daher der Institution mit dem Entzug der Kirchensteuer zumindest einen kleinen Denkzettel verpassen.

Nicht zuletzt sitze ich bisweilen Menschen gegenüber, die direkt oder in ihrer Familie von Missbrauch durch Priester oder Ordensfrauen betroffen sind. Die wollen nur noch raus, Abstand gewinnen.

Beobachten Sie Veränderungen über die Jahre, was die Austrittsgründe betrifft?

Dr. Thomas Kroll: Im Grunde nicht, doch die letzten Jahre haben zusätzliche Gründe sowie neue Themen und Anlässe mit sich gebracht, die Kirche zu verlassen. So war seit 2007 in der Hansestadt die Resonanz auf Entscheidungen des Papstes im fernen Rom durchaus zu spüren. Stichwörter sind in diesem Kontext etwa »Liturgie nach dem Missale von 1962« und »Revision der entsprechenden Karfreitagsbitte«. Zahlreiche Austritte erfolgten im Anschluss an die Rücknahme der Exkommunikation gegenüber vier Bischöfen der Piusbruderschaft, von denen einer den Holocaust leugnet.

In diesem Jahr ist die Reaktion auf die ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle ebenso unübersehbar wie das Feedback auf das mangelhafte Management diesbezüglich von leitenden Personen der Katholischen Kirche in Deutschland wie auch andernorts.

Was bewirkt ein Gespräch über die Austrittsgründe?

Dr. Thomas Kroll: Im besten Fall bringt es eine Klärung der Standpunkte mit sich und hilft, eine länger bestehende Beziehung mit Würde und mit Respekt auf beiden Seiten zu beenden. Die Menschen, die mir gegenüber sitzen, haben jeweils unterschiedliche »katholische Karrieren« hinter sich. Mein Angebot ist es, deren Verlauf miteinander anzuschauen, das Auf und Ab ebenso zu benennen wie Brüche und Symbiosen, Abhängigkeiten, Momente der Freiheit und spirituelle Herausforderungen. So entspinnt sich bisweilen ein gutes Glaubensgespräch, das mit einem »Danke« auf beiden Seiten enden kann.

Ein solches Abschiedsgespräch kann nichts ungeschehen machen von dem, was Menschen in und durch die katholische Kirche erlitten haben. Aber es kann zumindest punktuell erfahrbar werden lassen, dass sich Kirche weder als societas perfecta (vollkommene Gemeinschaft) versteht noch primär als lehrende Kirche, eher als lernende. Und so sehe ich mich als offenes Ohr der Kirche für »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst«, aber auch für Ärger und Frust, Leiden und innere Abkehr der Menschen von heute, auch wenn dies nicht immer angenehm ist.

Ein letztes: Ganz, ganz selten bewirkt ein Gespräch Umkehr und den Nicht Austritt einer Person. Dieser ist dann zum Beispiel transparenter geworden, wofür ihre Kirchensteuergelder verwendet werden, oder bewusst geworden, was ihr Herz im Letzten sucht – und dass dies schon heute im »katholischen Bremen« zu finden ist.

Haben Sie einen Rat, wie die Kirche mit Menschen umgehen soll, die ausgetreten sind?

Dr. Thomas Kroll: In jedem Fall sind Fingerspitzengefühl, Respekt und Achtung vonnöten. Es ist wichtig, jeden Einzelnen und jede Einzelne ernst zu nehmen. Wenn etwa von Kirche als Ort der Freiheit geredet wird, muss dies auch erfahrbar werden, und sei es erst beim vorerst letzten Kontakt.

Im Anschluss daran möchten manche nicht nochmals kontaktiert werden und reagieren bei einem Ostergruß sehr abweisend: In ihren Augen erscheint Kirche dann wie eine belästigende Werbeagentur, die nicht locker lässt. Andere freuen sich, dass trotz des Austritts weiterhin Kontakte möglich sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Elfriede Klauer, www.pfarrbriefservice.de.

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Das Schwerpunktthema für Februar 2011

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de