Auf die eigenen Schatten schauen

Warum es Sinn macht, sich mit Aggressionen auseinanderzusetzen – Ein Interview

Immer wieder der gleiche Ärger, immer wieder der gleiche Streit. Warum ist der andere nicht anders? Wem solche Gedanken vertraut vorkommen, wird vielleicht überrascht sein, was das Thema „Schaut hin!“ damit zu tun hat. Dazu ein Interview mit Susanne Wahler-Göbel. Sie arbeitet als freiberufliche Theologin und Körpertherapeutin in Bad Kissingen.

In einem Beitrag für ein Kirchenmagazin haben Sie einmal formuliert: ‚Jesus fordert uns dazu auf, das Unkraut auf unserem Lebensacker anzuschauen und uns damit auseinanderzusetzen. Es ist da, es will wahrgenommen werden.’ Wofür steht in diesem Bild das Unkraut?

Susanne Wahler-Göbel: Allgemein hat das Wort Unkraut ja einen negativen Klang. Es steht symbolisch für alles, was wir weghaben wollen – Aggressionen wie Wut und Ärger. In einem tiefenpsychologischen Sinne möchten diese Emotionen wahrgenommen und angeschaut werden. Ein Beispiel: Das Wort Aggression stammt vom lateinischen Wort aggredere, was bedeutet: an etwas herangehen. Vom Wortsinn her ist das also erst mal nicht negativ. Jemand, der viel Aggression in sich hat, könnte versuchen, die positive Energie, die sich dahinter verbirgt, anzuschauen und konstruktiv auszuleben. Wir brauchen ja Menschen, die Willenskraft besitzen und vorangehen.

Warum ist es gut, das ‚eigene Unkraut’ wahrzunehmen?

Susanne Wahler-Göbel: Es ist wichtig, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die einen negativ belasten. Psychologisch spricht man vom Schatten. Viele Menschen haben Schattenthemen, die meist aus frühen Erlebnissen stammen und nicht verarbeitet sind. Immer, wenn ich merke, irgendetwas triggert mich, dann ist das etwas, was ich selbst mit mir nicht gelöst habe. Also, wenn mich jemand anderes gerade aufregt, dann hat das nichts mit dieser Person zu tun. Der tiefere Grund ist: Diese Person spiegelt mir etwas, was ich selbst für mich nicht gelöst habe.

Was passiert, wenn man sich mit seinen Schattenthemen nicht auseinandersetzt?

Susanne Wahler-Göbel: Es wird sich nichts verändern. Es werden immer wieder die gleichen Themen, die gleichen Muster zum Vorschein kommen, immer wieder die gleichen Streitigkeiten und Dinge, über die man sich aufregt. Es muss auch immer wieder kommen, denn das tiefere Thema dahinter will ja angeschaut werden. Hier ist sehr viel innere Arbeit, auch spirituelle Arbeit notwendig. Für mich ist das die Lebensaufgabe schlechthin, die eigenen Schattenthemen ins Leben zu integrieren. Ich spreche hier bewusst von integrieren, weil wir unsere traumatischen Erfahrungen ja nicht löschen können, sondern lernen müssen, mit ihnen zu leben.    

Wie kann eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den eigenen Schattenthemen aussehen?

Susanne Wahler-Göbel: Indem ich aufhöre, den anderen zu beschuldigen. Der andere ist immer nur ein Spiegel, aber nie der tiefere Grund. Wenn es wieder zum Konflikt gekommen ist, kann ich überlegen: Was löst der andere in mir aus? Was fühle ich? Es ist ganz wichtig, bei sich selber zu bleiben und sich da an die Arbeit zu machen. Den anderen kann ich nicht ändern. Mich selbst aber schon.

Das klingt ziemlich herausfordernd.

Susanne Wahler-Göbel: Das Leben ist nicht einfach. Für mich ist das ein intensiver Weg. Es geht um inneres Wachstum. Letztlich ist ja die älteste Wunde aller Menschen die Angst, nicht geliebt zu werden. Auf diese Angst kann man alles herunterbrechen. Wenn ich in einem Konflikt bin, fühle ich mich nicht verstanden vom anderen und letztlich nicht geliebt. Auch das ist ein Punkt, der mir zeigt: Wenn ich mich selbst nicht annehmen kann wie ich bin, dann kann es auch der andere nicht machen. Letztlich geht es hier um eine tiefere spirituelle Dimension. Wenn wir Jesu Botschaft wirklich ernst nehmen und glauben, dass wir Gottes Kinder sind, dann ist Gott in uns. Dann dürfen wir überzeugt davon sein, dass wir gut sind und richtig. Aber das Leben und vor allem wir selbst machen es uns nicht einfach, Gottes Liebe immer zu spüren.

Die Handlungsempfehlung „Schaut hin!“ ist der Schlüssel zu …

Susanne Wahler-Göbel: … mehr Selbsterkenntnis und Selbstliebe.

Die eigenen Schattenthemen wahrnehmen und sich dennoch lieben – klingt wie ein Widerspruch.

Susanne Wahler-Göbel: Ich formuliere es so: Die eigenen Schattenthemen wahrnehmen und sich deswegen lieben. Wenn ich gut leben möchte, geht es darum, mich selber zu lieben mit all dem, was ich innerlich als Unkraut in mir wahrnehme. In dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen erzählt Jesus davon, dass das Unkraut verbrannt wird. Für mich ist das ein schönes und zugleich tiefes spirituelles Bild. Es meint: Alles, womit wir nicht im Reinen sind, dürfen wir in die Kraft des Feuers geben, um es in Wärme und Licht zu verwandeln.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

Frau Wahler-Göbel freut sich über Rückmeldungen. Kontakt unter www.raum-und-stille.com.

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de