Verzeihen und versöhnen: Ernstfall des Lebens

Nein! - Ich kann nicht mehr schlafen. Es schreit in mir. Immer wieder: Nein. Einer hat mir wehgetan. Nie hätte ich gedacht, dass er so böse sein kann. Eine Welt bricht für mich zusammen. Alles Gute, was wir erfuhren, erscheint mir wie ein Hohn. Nein, nie mehr. Nie mehr ihm vertrauen. Nie mehr überhaupt einem Menschen vertrauen. ... Jetzt sehe ich ihn in der Kirche. Zwei Bänke vor mir steht er, kniet sogar. Dann steht er auf. Betet. Betet mit mir: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. ... Heiß und kalt läuft es mir den Rücken herunter. Das Herz krampft sich in mir zusammen. Ich spüre, wie alles in mir Nein schreit. Nein! Nicht hier. Nicht diesem Menschen. Kein Wort spreche ich mehr mit ihm. Ich will ihn nicht mehr sehen. Die Welt ist mir nur noch erträglich, wenn ich ihn aus meinem Herzen streiche. Mit allem will ich leben – aber nicht mit dem, der mich so verletzt hat ...

Wer dieses oder ähnliches durchlebt, kommt an eine Grenze. Alles Reden von Glaube, von Heil oder von Gnade wird Makulatur. Wird einer schuldig an mir, beginnt der Ernstfall des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.

Ernstfall des Glaubens

Alles Reden von Gott schwindet dahin, wenn einer so schuldig wird an mir. „Arglistig ohnegleichen ist das Herz und unverbesserlich. Wer kann es ergründen?“ (Jes 17,9) Vor niemanden, auch vor Gott nicht, wage ich mich sehen zu lassen, wenn ich schuldig wurde an einem anderen. Mit Schaudern lese ich dann in der Bibel: „Sucht die Nähe Gottes; dann wird er sich euch nähern. Reinigt die Hände, ihr Sünder, läutert euer Herz, ihr Menschen mit zwei Seelen! Klagt und trauert und weint! Euer Lachen verwandle sich in Trauer, eure Freude in Betrübnis. Demütigt euch vor dem Herrn.“ (Jak 4,8ff) – Ja, rufe ich, so ist das! Traurig bin ich, am Boden zerstört, wenn ich schuldig werde; und ebenso, wenn einer schuldig wird an mir. Alles Reden von den Selbstheilungskräften der Seele erscheint mir bitter. In dieser Krisenzeit kann ich nicht trainieren Richtung Wohlfühlen. Alle Tipps zur Überwindung von solchem Schmerz prallen an mir ab.

Aufmerken lassen mich Worte des Glaubens, die mir verkünden: „Oder meint ihr, die Schrift sage ohne Grund: Eifersüchtig sehnt er sich nach dem Geist, den er in uns wohnen ließ. Doch er gibt noch größere Gnade; darum heißt es auch: Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade.“ (Jak 4,5f) Wo ich nicht(s) mehr anfangen kann mit dem, der mir Böses tat, wo ich mit mir ob meiner Bosheit nicht(s) mehr anfangen kann, beginnt Gottes Handeln an mir und dem, der mir Böses tat. Kann ich mir, kann ich dir nicht verzeihen, lenkt Gott meine Aufmerksamkeit auf seine Sehnsucht nach dem Geist, den Er mir gab. Eifersüchtig will Er Seinen Geist am Werk sehen. Mächtig will Er werden, mächtiger als aller Schmerz, alles Rechthabenwollen, alle Rachegedanken. Er lockt mich, mich aufs Neue Ihm zu übergeben. „Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes; denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.“ (Röm 12,9)

Ernstfall der Hoffnung

Wo ich verzeihen soll angesichts meiner Schuld mir selber oder angesichts der Schuld eines anderen diesem konkreten Mitmenschen, ist meine Hoffnung gefragt. Hoffe ich auf ein Schicksal, das stumpf mich dies und jenes erleben lässt, leeren sich Herz und Augen angesichts der Gemeinheit unter den Menschen und in mir. Hoffe ich allein auf meine Kraft, verkrampfe ich und ende böse im leeren Um-mich-Schlagen. Einsamkeit umgibt mich. Hoffe ich aber auf Gott, der aufmerksam eines jeden Menschen Weg begleitet, verbünde ich mich mit Seiner Leidenschaft: „Ich, der Herr, habe gesprochen. Jetzt ist es soweit, ich führe es aus. Ich sehe nicht tatenlos zu. Ich habe kein Mitleid, es reut mich nicht. Nach deinem Verhalten und deinen Taten will ich dich richten - Spruch Gottes, des Herrn.“ (Ez 24,14) Dabei bleibe ich in der Waage: So handeln, als käme alles auf mich an. Und so glauben und hoffen, als käme alles auf Gott an! In der Hoffnung auf Gott wage ich in Liebe das Menschenmögliche an Verzeihen, an Aufklärung, an Konfrontation – den Rest, den oft sehr großen Rest, überlasse ich Gott in der Hoffnung auf Sein Gericht.

Ernstfall der Liebe

Wo mir Glaube und Hoffnung entschwinden, weil ich die Enttäuschung nicht verwinden kann, versuche ich es mit der Liebe. „Hass weckt Streit, Liebe deckt alle Vergehen zu.“ (Spr 10,12). Man mag mich lästern, weil ich schweige, weil ich mich nicht wehre: „Sie lästern, weil ihr euch nicht mehr in diesen Strudel der Leidenschaften hineinreißen lasst. Aber sie werden vor dem Rechenschaft ablegen müssen, der schon bereitsteht, um die Lebenden und die Toten zu richten. Denn auch Toten ist das Evangelium dazu verkündet worden, dass sie wie Menschen gerichtet werden im Fleisch, aber wie Gott das Leben haben im Geist. Das Ende aller Dinge ist nahe. Seid also besonnen und nüchtern, und betet! Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander; denn die Liebe deckt viele Sünden zu.“ ( 1 Petr 4,4-8) Wo der Glaube verdunkelt ist auf Grund der Schuld, die an mir geschah oder durch mich, wenn die Hoffnung schwindet, weil der Schmerz so tief sitzt, dann ist die Grundmöglichkeit des menschlichen Herzens gefordert. Verzeihen ist der Ernstfall der Liebe, versöhnen die vornehmste aller Liebestaten. Fern ab von Wohlgefühl und Vergessen treibt die Liebe zur Wandlung des spontanen Nein in ein gewagtes Ja, das nicht die Vorleistung benötigt, um sich vorbehaltlos zu geben.

Ernstfall gekreuzigter Gnade

Ich könnte nicht verzeihen, nicht mir, nicht dem Bruder und der Schwester, würde ich nicht alle Gnade, alle Lebenskraft aus dem Herzen Jesu nehmen, durchstoßen und verwundet. So hilfreich mir Jesu Leben und Wirken ist – seine Kraft entfaltet Er in mir erst im Ernstfall, wo kein menschlicher Gedanke mich beruhigen kann über den Schmerz, den die Schuld mir zufügt. Dass sich Jesus den Hassern zuwendet. Dass sich Jesus dem Verbrecher am Kreuz zuneigt. Dass er verzeiht, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,24). Dass Gott im sinnlosen Tod Seines Sohnes durchgreift zur Liebe, durch die der Sohn nicht aufhört zu verzeihen. Dass Gott den Menschen in Christus auferweckt trotz all der Bosheit, die sich bis zum Tode austobte am Menschensohn: Das motiviert mich zum Versöhnen und zum Verzeihen.

Jeden Abend der Blick auf die Dornenkrone, die in meinem Zimmer hängt: Schlaf meine Seele, schlaf: Denn in des Liebsten Wunden hast du die Sicherheit und volle Ruh gefunden. (Angelus Silesius) Und dann die Sätze der Komplet: Ich bekenne Gott dem Allmächtigen .... Nachlass, Vergebung und Verzeihung gewähre uns der Allmächtige Gott ... In Deine Hände lege ich mein Leben ... Wenigstens für ein paar Stunden ausruhen im Schmerz. Unversöhnliches wird immer bleiben. Es bleibt aber auch mein Gott darin. Die Kraft, die Gnade, der Antrieb zur Neuschöpfung. In mein Nein zum Schuldner und zu mir in meiner Schuld sendet er täglich neu Seinen Heiligen Geist. Er durchkreuzt mein Nein – zu Ihm, zu Dir, zu mir zum Ja.

Bruder Paulus Terwitte

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Das Schwerpunktthema für April 2010

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Text: Bruder Paulus
In: Pfarrbriefservice.de