Telefonseelsorge: „Zwischen den Zeilen hören“

Rund sechzig ehrenamtliche und vier hauptamtliche Mitarbeiter sind an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr in der Telefonseelsorge in Köln erreichbar. Im Interview mit katholisch.de berichtet die Leiterin der Einrichtung, Annelie Bracke, von ihrer langjährigen Seelsorgearbeit am Telefon und welche Rolle der christliche Glaube bei ihrer Tätigkeit spielt.

Frage: Frau Bracke, wer ruft bei der Telefonseelsorge in Köln an?

Bracke: Bei uns rufen Menschen an ab dem Alter, in dem sie das Telefon bedienen können bis hin zu Senioren. Die meisten Anrufer sind zwischen 30 und 50 Jahren. Die Zahl der Anrufe von Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren auf etwa 20 Prozent gestiegen, weil viele übers Handy telefonieren.

Frage: Gibt es Menschen, die regelmäßig anrufen?

Bracke: Ja, ein Viertel der Anrufe erhalten wir von Menschen, die sich immer wieder melden – zum Teil über Jahre. Sie sind meistens in einer sehr schwierigen Lebenssituation, psychisch krank, arbeitslos oder ohne Bezugsperson. Sie erzählen von den kleinen und großen Kümmernissen, die man sonst eher dem Partner erzählen würde.

Frage: Mit welchen Fragen und Problemen werden Sie in der katholischen Telefonseelsorge häufig konfrontiert?

Bracke: Bei uns melden sich Menschen mit allen denkbaren Problemen. Sehr viele Anrufende möchten über Sorgen und Fragen im Zusammenhang mit Partnerschaft und Familie, Einsamkeit und psychischen und körperlichen Erkrankungen sprechen. Häufig geht es auch um Sinnfragen in Lebenskrisen, wenn zum Beispiel jemand seinen Partner verloren hat oder Opfer von Gewalt wurde.

Frage: Wie verläuft ein Gespräch? Oft erwartet der Anrufer doch bestimmt einen Ratschlag vom anderen Ende der Leitung...

Bracke: Ratschläge geben wir nur mit großer Zurückhaltung. Denn oft kommen meine Vorschläge aus meiner persönlichen Lebenserfahrung. Das kann unpassend für den Anrufer sein, der in einer anderen Lebenssituation steckt. Daher macht es mehr Sinn, gut zuzuhören, zu verstehen und den anderen ernst zu nehmen. Wenn ich frage "Was haben Sie schon versucht? Wo könnte es neue Wege für Sie geben, die aber vielleicht auch Angst machen?" eröffne ich dem Anrufer neue Perspektiven. Die Dinge erscheinen in einem anderen Licht. Es geht nicht darum, dass man sofort die Lösung findet.

Frage: Also erteilen Sie grundsätzlich keine Ratschläge?

Bracke: Bei Kinder und Jugendlichen gebe ich schon konkrete Ratschläge, denn sie wollen das auch oft. Kinder sind ehrlich, direkt und orientieren sich mehr an den nächsten Handlungsschritten. Ganz süß war mal ein jüngeres Kind, das anrief, weil es sich langweilte. Es hat dann aufgezählt, wozu es keine Lust hat oder was es schon gemacht hat. Daraufhin habe ich vorgeschlagen, es könne doch was malen. Da kam sofort ein freudiges „Au ja! Danke. Tschüss“, und es hatte aufgelegt. Andere Gespräche hingegen sind länger, weil es um Themen geht, die differenziert betrachtet werden müssen.

Frage: Und was für Gespräche sind das?

Bracke: Das können Gespräche sein, bei denen ich versuche, die Hintergründe zu verstehen, oder jemand einfach nur erzählen möchte, wie es ihm in seiner Lebenssituation geht. Mich hat mal ein 15-jähriges Mädchen angerufen, das ungewollt schwanger war. Ich sprach mit ihr über die Familie, den Freund, die Schule. Oft sind wir die Ersten, denen sich die jungen Mädchen anvertrauen und sie haben große Angst. Dann ist es oft entlastend und erleichternd, wenn sie es jemandem erzählen können und nicht bedauert werden oder Vorwürfe hören. Denn durch das Gespräch kann dem Anrufer einiges klarer werden.

Frage: Sie sind jetzt schon über 20 Jahre dabei. Hat sich Ihr Gespür für die Anrufer in dieser Zeit verändert?

Bracke: Ja, ich höre anders. Ich höre mehr zwischen den Zeilen, meine Intuition ist größer geworden. Manchmal, in der ersten Sekunde, ohne dass der Anrufer etwas gesagt hat, spüre ich schon, wenn es um eine Lebenskrise geht und oft stimmt das. Dann bin ich hellwach und präsent, egal wie müde ich vorher war. Man lernt durch die Arbeit, die Zwischentöne zu hören. Besonders, wenn mich Anrufe von Menschen erreichen, die sich das Leben nehmen möchten. Da ist es wichtig, dass ich mit dem Anrufer solange in Kontakt bleibe, bis sich die Situation zunächst beruhigt hat.

Frage: Wie gehen Sie mit diesen Menschen um?

Bracke: Das Wichtigste ist, eine Verbindung herzustellen und das geht nur, wenn ich ernsthaft Verständnis aufbringe, ohne ihre Lebenssituation schön zu reden. Denn die Verzweifelten meinen es ernst, suchen aber noch einen letzten Kontakt und eine Begegnung, bevor sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Ich hatte schon Anrufer, die während unseres Gesprächs Tabletten geschluckt haben.

Frage: Wie nehmen Sie Verbindung auf zu solch hoffnungslosen Anrufern?

Bracke: Oft haben sie schon ziemlich dicht gemacht und abgeschlossen. Doch trotzdem rufen sie mich an! Bei solchen Telefonaten ist es wichtig, behutsam Kontakt zu dem Anrufenden zu suchen und die Situation zu klären. Ich frage, was der Anrufer schon getan hat, was er noch vorhat. Ich kann einen Suizidgefährdeten nur von seinem Vorhaben abhalten, wenn ich das Thema der Selbsttötung ohne Scheu offen anspreche. Laien denken oft, dass eine direkte Nachfrage denjenigen noch ermutigt, aber das stimmt nicht.

Frage: Da bewegen Sie sich auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite wollen Sie den Selbstmordgefährdeten von seinem Tun abhalten, ihn aber auf der anderen Seite nicht unter Druck setzen...

Bracke: Ich muss versuchen, mich auf den Anrufer einzulassen, ohne mich in seine Verzweiflung mit hineinziehen zu lassen. Vielmehr suche ich einerseits nach Lebensperspektiven, andererseits versuche ich auch zu verstehen, worin für den Anrufenden oder die Anrufende der verlockende "Sinn" besteht, das eigene Leben zu beenden. Manchmal ringe ich darum, dass mir der Anrufer die Möglichkeit gibt, Hilfe zu schicken, bevor er oder sie einschläft.

Frage: Können Sie suizidgefährdete Anrufer von ihrem Vorhaben abhalten?

Bracke: Oft bleibt es offen und ungewiss. Als Telefonseelsorgerin muss ich damit leben können, dass sich jemand am Telefon verabschiedet, ohne dass ich je erfahre, wer er war. Es bleibt unklar, ob die Tablettendosis so hoch war, dass er daran starb. Das ist sehr belastend. Diese Ungewissheit macht mir bewusst, dass ich an Grenzen stoße und auch ohnmächtig bin. Nach solchen Gesprächen ist es besonders wichtig, sich in der regelmäßig stattfindenden Supervision in der Gruppe zu entlasten.

Frage: Wo erleben Sie Ihren Glauben in Ihrer Arbeit?

Bracke: Meine Spiritualität, mein Glaube und meine Erfahrung, angenommen und auch in Krisen gehalten zu sein, sind die Wurzeln, aus denen ich Mut und Hoffnung für diese Arbeit schöpfe. Unsere Tätigkeit in der Telefonseelsorge ist eine zutiefst christliche. Das Religiöse beginnt für mich nicht da, wo man über Gott spricht, sondern, wo man da ist für den Anderen. Wenn sich ein Anrufer für nicht wertvoll hält, weil er lange arbeitslos oder psychisch krank ist, kann ein Gespräch mit einem anderen Menschen, der ihn ernst nimmt und nicht verurteilt, tröstend sein. Mit meiner Gesprächsbereitschaft signalisiere ich, dass der andere wichtig ist. Das ist das, was mich motiviert, wenn ich es als Christin tue. Weil ich glaube, dass jeder Mensch wichtig ist und geliebt wird.

So erreichen Sie die Telefonseelsorge

Telefon: 0800-1110111 oder 0800-1110222 (der Anruf ist kostenfrei)
Chatberatung: chat.telefonseelsorge.org
Mailberatung: www.ts-im-internet.de

Interview: Saskia Gamradt, www.katholisch.de, In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Oktober 2016

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Text: Saskia Gamradt, www.katholisch.de
In: Pfarrbriefservice.de