Es hilft, sein Leben als Pilgerschaft zu verstehen

Eine Geschichte und ihre Deutung

In einem Schloss, von dem längst kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist, lebte einst ein vornehmer und reicher Herr. Sein ganzes Vermögen verwendete er darauf, sein Schloss immer noch prächtiger auszustatten. Eines Tages kam ein Pilger zum Schloss, klopfte an und bat um ein Nachtlager.

„Mein Schloss ist kein Gasthaus", erklärte er dem Pilger und wollte schon das Fenster am Tor schließen. Der Pilger aber sagte: „Ich ziehe gleich weiter. Aber bitte, beantwortet mir vorher drei Fragen". Darin willigte der Schlossherr ein, denn er war nicht nur reich und vornehm, sondern auch neugierig.

„Meine erste Frage", begann der Pilger, „ist die: Wer wohnte vor Euch in diesem Schloss?" - „Selbstverständlich mein Vater", antwortete der Schlossherr. „Und wer", fragte der Pilger weiter, „wohnte vor Eurem Vater dort?" - „Mein Großvater", antwortete der Schlossherr. „Und", fuhr der Pilger fort, „wer wird wohl nach Euch in Eurem Schloss wohnen?" - „Mein Sohn", antwortete der Schlossherr irritiert.

„Wenn das so ist", sagte schließlich der Pilger, „wenn jeder nur ein Weilchen in diesem Schloss wohnt und dann Platz macht für einen anderen, was ist dieses Schloss dann anderes als ein Gasthaus? Und was seid Ihr selbst anderes als Gäste?"

In der Tat - es macht einen Unterschied, ob sich einer als Herr oder als Gast versteht. Es macht einen Unterschied, der sich darin zeigt, wie er denen begegnet, die an seine Tür klopfen.

„Man muss wie Pilger wandeln" hat der Mystiker Gerhard Tersteegen geschrieben, „frei, bloß und wahrlich leer;/viel sammeln, halten, handeln/macht unseren Gang nur schwer./Wer will, der trag sich tot/wir reisen abgeschieden,/mit wenigem zufrieden;/wir brauchen's nur zur Not."

Der Pilger ist sich darüber im Klaren, dass er zusammen mit Anderen Gast ist auf dieser Erde. Den Dingen des Lebens zugetan, aber nicht abhängig von ihnen. Wissend, dass es von Vielem zu viel gibt, von menschlicher Aufmerksamkeit füreinander und Zuwendung zueinander aber zu wenig. In der Gestalt des Pilgers begegnet uns eine Liebe zu Menschen und Dingen, die sich verbindet mit dem Wissen, dass das Leben nicht besessen werden kann, sondern Geschenk ist. Eine Leichtigkeit des Seins, die dieses manchmal so schwere Sein erträglich macht und schwebend.

„Das ist der Gastfreundschaft tiefster Sinn“, hat Romano Guardini gesagt, „dass ein jeder dem anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause."

Klaus Nagorni

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Das Schwerpunktthema für Juni 2011

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Text: Klaus Nagorni
In: Pfarrbriefservice.de