Einmal ganz anders leben und dann wieder heimkommen

Morgens um 6 Uhr ging es los. Jedes Jahr wieder, immer zu Pfingsten. Nichts dabei als einen großen Rucksack, darin Zelt, Schlafsack, Spirituskocher, einen dicken Pullover für die Nacht und eine Extraration Schokolade – falls gar nichts mehr geht. Zu siebt oder acht trotteten wir verschlafen durch die kühle Morgenluft zum Bus, der uns und fünfzig weitere Jugendliche in irgendeines der nahen Mittelgebirge brachte. In nie gehörten Dörfern wurden wir abgesetzt. Ab jetzt hieß es: Drei Tage lang einem auf der Karte markierten Treffpunkt entgegen zu wandern. Schauen, an welcher Tür wir unsere Wasserflaschen füllen, auf welcher Wiese wir die Zelte aufstellen können. Katzenwäsche in kalten Bächen, herausfinden, wo Westen ist, ausprobieren, wie ein kleines Feuer am besten brennt.

Das Weite suchen, raus aus der Stadt, raus aus dem Alltag. Einmal ganz anders leben, und sei es nur für drei Tage. Oder genauer: Gerade für drei Tage. Nur in dem Wissen, dass Zuhause ein Bett und eine warme Dusche warten, haben wir uns auf die Wanderung gefreut. Und konnten noch Wochen danach von den Sonnenaufgängen und dem Geruch von Feuer, Tannennadeln und feuchtem Moos zehren.

Das andere Leben ausprobieren. Damals hieß das: Drei Tage ohne die Frage „Was ziehe ich an?“ zu leben, statt Weckerklingeln morgens um sieben die Vögel um fünf zu hören, statt Pizza vorm Fernseher Lieder und Lagerfeuer.

Heute ist es nicht viel anders: Mindestens einmal im Jahr suche ich das Weite. Muss raus aus dem gewohnten Tagesablauf, Atem holen, sehen, was noch wichtig ist, außer Arbeit und Alltag. Das Meer an der Seite haben, über Gott und die Welt reden, dann wieder mit den eigenen Gedanken unterwegs sein. Dinge tun, für die sonst die Muße fehlt: in eine Kirche gehen und ein bisschen dasitzen, auf einem alten Friedhof diskutieren, wozu Grabsteine gut sind. Zeit haben: Den Wellen lauschen, Backgammon spielen, dem Regen zusehen.

Urlaub ist das andere Leben. Das Leben jenseits des Alltags, der verlängerte Sonntag. Ruhezeit, Zeit für die Seele, Zeit für das, was sich ökonomisch nicht rechnet. Man muss nichts leisten, nichts schaffen, nichts herstellen. Außer vielleicht die größte Sandburg. Und wenn die Flut sie halbfertig holt, macht es auch nichts.

Urlaub ist nicht unbedingt das bessere Leben. Immer am Strand liegen, auch wenn alle Krimis ausgelesen sind? Tatsächlich auf einer Alm leben, wo an Feierabend nicht zu denken ist? Nein, nicht wirklich. Aber man bekommt einen anderen Blick. Manche Alltagssorgen relativieren sich. Ein anderer Rhythmus stellt sich ein, weniger bestimmt von äußeren Begebenheiten als von den eigenen Bedürfnissen. Man begegnet anderen Lebenswelten und merkt: So geht es auch. Wer aufbricht, hat Zeit, zu rekapitulieren, was gewesen ist. Egal ob auf einer Wanderung durch die Alpen, in einer kleinen Waldpension, im Kloster oder auf einer italienischen Piazza. Man kann sich selbst aus der Ferne betrachten, das eigene Zuhause, den Alltag, das Leben. Entdeckt, wofür man dankbar ist, merkt, was fehlt und was vielleicht zu ändern ist.

„Gewiss, es wäre besser, ich käme gar nicht wieder, wenn ich nicht wiedergeboren zurückkommen kann“, schreibt Goethe während seiner Italienreise. Reisen, Aufbrechen heißt im besten Fall, sich zu regenerieren, Kräfte wiederzugewinnen, Lust, Ideen. Vielleicht ist es auch noch mehr: Rekreation, sich selbst wieder zu erschaffen, zu beleben, zu sich zu kommen, zu dem, was das Leben eigentlich ausmacht.

Wer das Weite sucht, sehnt sich in aller Regel irgendwann wieder nach einem Zuhause. Kein Urlaub ohne Wiederkommen, denn sonst würde der Urlaub zum Alltag, zum normalen Leben mit allen Problemen und Ärgernissen, die vorher auch da waren. Das Glück wartet selten anderswo. Nicht mal im Märchen: Auch da brechen die Protagonisten auf, entdecken neue Länder, fremde Menschen, müssen unbekannte Situationen meistern, um am Ende wieder zurückzukehren. Reich an Erfahrungen, oft genug gereift und „beruhigt“, um wieder in den Alltag einzusteigen, die eigenen Aufgaben zu bewältigen. Da macht es nur einen kleinen Unterschied, ob es sich um ein Königreich handelt, das es zu führen gilt, oder einen Haushalt, der zu organisieren ist. „Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir, suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für", schreibt Angelus Silesius schon vor knapp 400 Jahren. Und erinnert daran, dass man das Glück, die Erfüllung, Gott selbst an keinem anderen Ort findet, wenn nicht schon in sich selbst. Nicht auf den Gipfeln deutscher Mittelgebirge und auch nicht an den Stränden des Atlantik. Aber vielleicht findet man unter ihrem weiten Horizont Zeit, Ruhe und Klarheit, genau hinzuhören, um den Himmel, das Glück (wieder) zu entdecken.

Susanne Niemeyer, Andere Zeiten e.V., www.anderezeiten.de

 

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Das Schwerpunktthema für Juli 2011

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Text: Susanne Niemeyer, www.anderezeiten.de
In: Pfarrbriefservice.de