Ein Jugendlicher erfährt bedrängendes Verhalten vom Pfarrer seiner Gemeinde

Ein anonymer Erfahrungsbericht

Seit mehreren Jahren bin ich in meiner Gemeinde aktiv. In der Jugend- und Gemeindearbeit habe ich wenig Kontakt mit unserem Gemeindepfarrer. Für eine Unterschrift treffe ich ihn das erste Mal in einem Konferenzsaal im Pfarrheim. Er zeigt sich interessiert und bietet mir an, eigene Kontakte zu nutzen, um mir die Suche nach einem Praktikumsplatz zu erleichtern.

Wenige Tage später besucht mich der Pfarrer zuhause. Und tatsächlich, er erzählt mir, dass er mir einen Praktikumsplatz organisieren konnte. Ich bedanke mich höflich. Er bietet mir an, wir könnten gemeinsam einen Kakao auf seiner Terrasse trinken. Selbstverständlich möchte ich mich persönlich bedanken und stimme dem Treffen zu. Also essen wir gemeinsam zu Mittag, wir spielen Spiele und reden über Alltägliches. Er zeigt mir sein Fotoalbum, gefüllt mit jungen Menschen, die er kennengelernt hat. Ich darf mich auch eintragen. Mir wird die Situation das erste Mal ein wenig unangenehm. Alleine mit einem fremden alten Mann, in seinem Haus. Doch ich sage nichts, immerhin hat er mir einen Praktikumsplatz besorgt, immerhin ist er nett; und netten, hilfsbereiten Menschen kann ich nicht sagen, dass ich mich unwohl fühle. Er wollte mich einfach nur kennenlernen. Hat sich gefreut, einem jungen Menschen helfen zu können. Und ich, ich fühle mich unwohl damit einmal mit ihm zu Mittag zu essen. 

Über die nächsten Monate entwickelt sich der Kontakt immer weiter. Immer wieder gibt es Neuigkeiten. Er ruft mich an, bietet weitere Treffen an, lädt mich mit anderen zu seinem Geburtstag ein. Jedes Mal versuche ich einem Treffen aus dem Weg zu gehen, erfinde Ausreden, verschiebe geplante Treffen. Zum gemeinsamen Eisessen mit dem Pfarrer begleitet mich eine Freundin. Das Verhalten des Pfarrers findet sie übergriffig und merkwürdig. Ich solle mich nicht alleine mit ihm treffen. Der Pfarrer redet mit ihr über die Bedeutung und Auswirkungen von Missbrauch in der katholischen Kirche. Gleichzeitig schlägt er vor, mich in meinem Auslandsjahr besuchen zu kommen und plant einen gemeinsamen Besuch mit mir bei seinem Physiotherapeuten in Berlin. Ungläubig blickt meine Freundin mich an. Sie lacht nervös. Doch ich sage nichts, rede mich heraus, ignoriere die Vorschläge. Schließlich habe ich mich erst dreimal mit ihm getroffen, schließlich hat er mir einen Praktikumsplatz organisiert, schließlich meinte er, er wolle einfach nur junge Leute kennenlernen. 

Ein halbes Jahr später erhalte ich dann eine Nachricht vom Pfarrer über Whatsapp. Er bietet mir einen Nebenjob bei ihm zuhause an, er würde mich doch so gerne in seiner Nähe haben. Zum ersten Mal bekomme ich ein mulmiges Gefühl. Ich schicke die Nachricht an eine Freundin. Diese ist schockiert von der Nachricht und macht mir klar, dass das Konsequenzen haben muss. Sie stellt den Kontakt zu einer Vertrauensperson im Pfarrgemeinderat her. Mit ihr folgen mehrere Gespräche, in denen überlegt wird, was getan werden kann und was am sinnvollsten ist.

Noch immer schreibt der Pfarrer mir ab und zu Nachrichten, lädt mich zu sich nach Hause ein. Auf meinem Handy wandert das Gespräch immer weiter nach unten, bis ich es nicht mehr sehe und schlussendlich vergesse. Schließlich erfahre ich von anderen in der Gemeinde, die ähnliches Verhalten beim Pfarrer beobachtet hätten. Zum ersten Mal kommt die Idee auf, eine offizielle Missbrauchsstelle zu informieren. Doch erst vier Monate nach dem letzten Kontakt mit dem Pfarrer rufe ich bei der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten meines Bistums an. 

Ab da geht alles plötzlich ganz schnell. Ein einziger Anruf und auf einmal sind Staatsanwaltschaft und die Missbrauchsstelle eingeschaltet. Im Urlaub erhalte ich einige Monate später dann einen Anruf von der Polizei. Die Staatsanwaltschaft habe kein strafbares Verhalten feststellen können. 

Es gibt nun zwei Möglichkeiten. Entweder der Fall wird geschlossen, die Kirche über die Entscheidung informiert. Der Pfarrer erfährt nie etwas von meinem Anruf und es folgen keinerlei Konsequenzen. Oder ich veranlasse eine Untersuchung durch die Polizei. 
Der Polizist erreicht mich in einem japanischen Restaurant in Frankreich. Gerade unterhalte ich mich mit einem Freund. Um mich herum herrscht reges Treiben. Der Anruf bei der Missbrauchsbeauftragten liegt Monate zurück. Es reichen ein paar Worte des Polizisten und sofort wird mir klar, wenn ich jetzt nichts sage, wird nichts passieren. Also veranlasse ich einen sogenannten Strafantrag. Der Pfarrer wird also angehört, muss sich persönlich rechtfertigen.

Doch was, wenn der Pfarrer wirklich nur nett war? Was, wenn er mich nie in unangenehme Situationen bringen wollte? Was, wenn das alles noch Konsequenzen für meine Gemeinde haben wird? Was, wenn ich mit meiner Entscheidung übertrieben habe?

Wieder vergehen einige Monate. Kontakt zum Pfarrer hatte ich seit über einem halben Jahr nicht mehr. Wenn ich meinen Freundinnen und Freunden von meiner Entscheidung erzähle sind die Meinungen geteilt. Solch einem Verhalten sollen klare Grenzen aufgezeigt werden, sagen die einen. Eine Anhörung der Polizei sei aber ein ganz schön extremes Mittel, sagen die anderen. 

Letztendlich nimmt mir das Generalvikariat die Entscheidung ab. Per Mail werde ich darüber informiert, dass das Verfahren endgültig eingestellt wurde. Kirchenrechtlich wurde der Pfarrer schriftlich verwarnt und auf die angemessene Diskretion und Zurückhaltung im Umgang mit Jugendlichen verwiesen. Das Dekret wurde nach Rom entsandt.
Ein weiteres Treffen mit dem Pfarrer habe ich nicht gefordert. Mittlerweile bin ich für das Studium aus meiner Gemeinde weggezogen. Der Pfarrer hat sich seit dem Anruf bei der Polizei nicht mehr bei mir gemeldet.

anonym, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Anonym
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