Die Mitte finden

Kolumne: Zwischenmenschliches

In einer griechischen Sage wird uns von Dädalus, einem sehr klugen und erfolgreichen Menschen berichtet, den die Götter aus Neid auf eine einsame Insel verbannt hatten. Dort plante er mit seinem Sohn Ikarus heimlich die Flucht. Er baute sich und seinem Sohn ein Fluggerät aus Lederriemen, Federn und Wachs. Bevor er die Flucht wagte, unterrichtete er mit väterlicher Liebe und Sorge seinen Sohn über die Chancen und Gefahren dieses echten Abenteuers. Er bat ihn, während seines Fluges stets die Mitte zu wahren zwischen Meer und Sonne. Wenn er zu tief fliege, würde ihm die Gischt der Wasserwellen die Flügel beschweren und ihn hinab ziehen. Würde er zu hoch steigen, käme er der Sonne zu nahe. Dann würde das Wachs, das die Federn seines Flugapparates zusammen hält, in der Hitze schmelzen. Zwischen den Wellen und der Sonne sollte er seinen Flug lenken. Wir wissen, dass Ikarus dies leider nicht schaffte, und abstürzte.

Das Leben ist nicht „einfach“, sondern „zweifach“.

Wie einfach, unser Gefühl ergreifend, ist dieser kleine, symbolträchtige Text. Er liefert uns einen Schlüssel zum besseren Verständnis unserer oft schwierigen Lebenssituation. Im Zentrum steht auch hier die Bemühung, auf dieser spannenden Lebensfahrt stets die „Mitte“ im Blick zu behalten. Hier bewahrheitet sich die Tatsache, dass unser Leben eben nicht „einfach“ ist, sondern in der Tat immer „zweifach“, immer wieder eine unaufhörliche Spannung in der Entscheidung, zwischen zwei Gegensätzen eine Mitte zu finden, einen Ausgleich, ein Gleichgewicht zwischen Ich und Du, Nähe und Distanz, Harmonie und Streit, Reden und Schweigen, Vertrauen und Misstrauen, Anspannung und Entspannung, Festhalten und Loslassen und vielen anderen nur „scheinbaren Gegensätzen“, die allerdings in der Balance zueinander ein gelungenes und lebenswertes Leben garantieren. Dieses Auspendeln, Austarieren zwischen den jeweils beiden Seiten einer Gegensätzlichkeit ist ein so unendlich wichtiger und notwendiger Vorgang, dass man ihn ein universales Gesetz nennen kann. Im ganzen Kosmos herrscht dieses Prinzip des Gleichgewichts, der Balance.

Als geradezu „himmlisches Gleichgewicht“ können wir jene biblische Aufforderung begreifen, wenn es dort heißt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matth 22,37-39). Hier wird in zwei Sätzen zusammengefasst, welcher Weg zum letzten Glück führt. Beides, die Gottes- und die Nächstenliebe, sind untrennbar miteinander verbunden. Hier gilt es immer im Gleichgewicht zu sein. In der berühmten „Nikomachischen Ethik“, einem moralischen Erbe des Philosophen Aristoteles an seinen Sohn Nikomachos, heißt es: „Alles, was im Leben irgendwie einen Wert darstellt, kann seiner Natur nach durch ein Zuviel oder Zuwenig zerstört werden.“

Dass diese Lebensweise oft sehr schwer zu leben und zu wahren ist, wusste schon der Heilige Augustinus, wenn er meint: „Unruhig ist mein Herz, bis es ruhet in Dir.“ Vor allem fällt uns das Gleichgewicht zwischen unseren eigenen Wünschen und den Bedürfnissen anderer schwer. Jeder, der das schafft, darf sich mit Recht einen „reifen Menschen“ nennen.

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de