„Wir brauchen keine Angst vor der Autonomie der Menschen zu haben“

Ein Interview mit dem Medizinethiker Florian Jeserich, der Beschäftigte im Gesundheitswesen nach ihrer Einstellung zur Suizidbeihilfe befragte

Was denken die Menschen über eine Suizidbeihilfe, die täglich in christlichen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen mit Sterben und Tod konfrontiert sind? Der Medizinethiker Florian Jeserich hat dazu 2022 im Bistum Essen verschiedene Berufsgruppen befragt. Demnach können sich 85 Prozent eine Suizidbeihilfe in kirchlichen Einrichtungen vorstellen. Ein Interview mit ihm zu den Ergebnissen und was daraus seiner Meinung nach folgen sollte.

Herr Jeserich, was war das für eine Studie? Und wer wurde befragt?

Florian Jeserich: Es waren zwei Studien: eine qualitative, die uns half, ein Gefühl für die Argumente und Streitpunkte zu bekommen, und eine quantitative, die – aufbauend auf die qualitative Studie – mittels eines Online-Fragebogens durchgeführt wurde. Wir baten die Beschäftigten aller christlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens im Bistum Essen um Teilnahme. 308 Personen aus den verschiedenen Berufsgruppen, wie Ärzte, Pflegekräfte, Sozialdienst und Seelsorger, nahmen teil. Stark vertreten waren katholische Einrichtungen, Krankenhaus-Beschäftigte und die Gruppe der Pflegekräfte.

Warum haben Sie diese Studien durchgeführt?

Florian Jeserich: Bei meinem damaligen Arbeitgeber, der Katholischen Akademie Die Wolfsburg, war ich stark in der Begleitung und Organisationsentwicklung von katholischen Häusern involviert. Wir arbeiteten an der Frage, was eine christliche Unternehmenskultur ausmacht und wie wir diese weiterentwickeln können. Von daher gab es einen starken Zugang zu medizinethischen Themen. Die Kirchen lehnen in ihren offiziellen Stellungnahmen eine Suizidbeihilfe ab. Wir wollten wissen, was die Menschen, die in der Praxis mit diesem Thema konfrontiert sind, darüber denken.

Laut Ihrer Umfrage können sich 85 Prozent der Befragten eine Suizidbeihilfe in kirchlichen Einrichtungen vorstellen. Nur 10 Prozent lehnen sie ab. Haben Sie diese Ergebnisse überrascht?

Florian Jeserich: In der Tendenz nicht. Aus Vorgesprächen und Besuchen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass eine Mehrheit offen ist für dieses Thema. In der Klarheit haben mich die Ergebnisse allerdings doch überrascht. Eine Erklärung hätte sein können, dass vor allem Menschen ohne christliche Prägung an der Studie teilgenommen haben. Aber wir haben das überprüft und stellten fest, dass bei den Menschen, die katholisch gebunden sind und sich als religiös bezeichnen, eine Suizidbeihilfe sogar noch stärker bejaht wird.

Welche Argumente für die Suizidbeihilfe wurden angeführt?

Florian Jeserich: Die Mitarbeitenden haben das Argument der Selbstbestimmung am häufigsten genannt, nach dem Motto: Wer sind wir, dass wir das jemandem verbieten könnten. Deutlich wurde auch ein starker Wunsch nach Transparenz und rechtlicher Klarheit. Momentan ist vieles unklar. Was ist passive Sterbehilfe, was ist aktive, wo beginnt das Sterbenlassen und ab wann macht man sich strafbar? Es gibt bereits jetzt eine gewisse Quote an verdeckter Suizidbeihilfe. Damit fühlt sich keiner wohl. Mitarbeitende wünschen sich dringend eine klare Regelung dessen, was erlaubt ist. Denn die Menschen, die mit diesen Fragen in ihrer Arbeit konfrontiert sind, möchten das Richtige tun. Spürbar wurde auch der Wunsch, das Thema zu entmoralisieren und aus der starken moralischen Abwertung des Suizids als Sünde herauszukommen.

Die offizielle Haltung der katholischen Kirche zur Suizidbeihilfe ist ein klares Nein. Wie gehen die verschiedenen Berufsgruppen mit diesem Nein um?

Florian Jeserich: Das kann ich natürlich nicht repräsentativ beantworten, sondern nur subjektiv aus den Gesprächen. Danach wünschen sich die Beschäftigten einen offenen Diskurs, ein ethisches Ringen um dieses Thema und nicht eine festgelegte moralische Instanz, die sich allein auf die Tradition beruft. Interessanterweise halten 15 Prozent der Befragten eine Suizidbeihilfe sogar für christlich geboten. Sie orientieren sich dabei an der Figur Jesus und sagen, er war bei denen, denen es am schlechtesten ging. Er hat Menschen, die als „Sünder“ abgestempelt wurden, aufgesucht, begleitet und entstigmatisiert. Suizidbeihilfe in dauerhaft unausweglichen und reflektierten Situationen zu verweigern, können viele nicht nachvollziehen, auch Seelsorger nicht.

Das Thema Suizidbeihilfe ist in kirchlichen Betreuungseinrichtungen aufgespannt zwischen der Befürchtung, dass sozialer Druck einen hilfsbedürftigen Menschen zur Selbsttötung bringen könnte, und dem Respekt vor der Entscheidung eines Menschen, nicht mehr weiterleben zu wollen. Wie können kirchliche Einrichtungen Ihrer Meinung nach gut damit umgehen?

Florian Jeserich: Wenn das Hauptargument der Gegner einer Suizidbeihilfe der soziale Druck ist, dann wären doch gerade christliche Einrichtungen prädestiniert, es gar nicht so weit kommen zu lassen, dass sich Menschen als unnütz, als Belastung oder als vereinsamt empfinden. Christliche Einrichtungen können hier einen unglaublich wichtigen gesellschaftlichen Auftrag leisten, nämlich genau bei diesen Menschen zu sein, ihren Selbstwert zu stärken und sie zu begleiten. Wenn es nämlich gelingen würde, dass sich diese Menschen nicht mehr unnütz, einsam oder unter Druck gesetzt fühlen, würden wir sie zu einer autonomen Entscheidung überhaupt erst ermächtigen. Und dann würden diese Menschen aufgrund ihrer autonomen Selbstbestimmung möglicherweise sagen: Das Leben lohnt sich vielleicht doch noch. Worauf ich hinaus will: Wir brauchen keine Angst vor der Autonomie der Menschen oder vor einem starken Autonomiebegriff zu haben. Die wirkliche Gefahr ist die soziale Isolation, das Alleingelassensein. Wenn aber Menschen, die aufgrund von sozialem Druck oder ihrer sozialen Situation einen Wunsch nach Selbsttötung haben, kein Gehör und keine Begleitung finden, wird sich Kirche der Frage stellen müssen, warum dieser suizidpräventive Ansatz nicht bestmöglich genutzt wurde.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de