Mein „Ich“ im Spiegel des „Du“

Gedanken zur Selbstliebe

Vor 1700 Jahren vermachte der griechische Philosoph Aristoteles seinem Sohn Nikomachos einen weisen Ratschlag, der heute als ein Grundprinzip menschlichen Handelns gelten kann: „Lieber Sohn, alles, was im Leben einen Wert hat, kann durch ein Zuviel oder ein Zuwenig zerstört werden.“ Diese Worte betonen die Bedeutung der Balance zwischen Gegensätzen wie: Reden und Schweigen, Nähe und Distanz, Vertrauen und Misstrauen, Harmonie und Streit, Festhalten und Loslassen…usw. Die Balance zwischen „Ich“ und „Du“ ist hierbei von besonderer Bedeutung. Es ist die von Jesus selbst geforderte Balance zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe (vgl. Matth. 22,39).

Wenn also jemand hier die Eigenliebe zu stark betont, der versündigt sich an der geforderten Nächstenliebe. Und wer die Nächstenliebe zu sehr in den Vordergrund stellt, der läuft Gefahr, die Eigenliebe in den Hintergrund treten, verblassen und vergessen zu lassen. Wenn also soziales Verhalten uns zu wahren Menschen macht, so wäre es aber „unsozial“, wenn wir dabei das eigene Ich sträflich vernachlässigen würden. Bedenkenswert ist hier eine häufige Erfahrung, dass es oft gerade die besonders sozial eingestellten Menschen sind, die sich für die Sorgen der anderen unglaublich stark machen können, aber an ihren eigenen Sorgen fast zerbrechen. Es sind dies die „hilflosen Helfer.“

Ich muss dabei an eine Frau denken, die in die Beratungsstelle kam, weil sie sich große Sorgen machte um ihren Mann, der einfach das Trinken nicht lassen wollte (konnte) und auf dem besten Weg war, in die totale Alkoholsucht zu rutschen. Sie wollte alles Erdenkliche tun, das zu verhindern und wollte ihm dabei helfen, wo, wann und wie sie nur konnte. Die Nachbarn sollten auf keinen Fall merken, was mit ihrem Mann los war. Wenn dieser total betrunken und aggressiv nicht nur die „Möbel zerschlug“, sondern auch sie verletzte. Er und auch sie machten ständig Schulden, um sein Trinken und die Folgen weiter zu gewährleisten. Wenn der Chef ihres Mannes anrief und fragte, warum ihr Mann nicht zur Arbeit gekommen sei, hatte sie stets eine plausible Entschuldigung parat. Sie wollte alles tun und auf gar keinen Fall mitansehen, wie der „Arme“ in der „Gosse landet. Vor lauter „Nächstenliebe“ war sie völlig blind ihren eigenen Gefühlen gegenüber, eigene Aggressionen wurden sofort „ausgeschaltet“, ihre Kräfte überschätzte sie, bis sie eines Tages einen Nervenzusammenbruch erlitt. Ihr eigenes Ich machte mit Recht dieses traurige Spiel nicht mehr mit.  Es wollte ihr einfach nicht bewusst werden, dass sie mit ihrem „ichvergessenen“ Verhalten ihren Mann als „Co-Alkoholikerin“ geradezu unterstützte, immer weiter „ungestört“ in die Sucht zu rutschen. Das Wort: „Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst“ wurde so zu einer verhängnisvollen, ausweglosen Einbahnstraße.

Bei solch einer traurigen Entwicklung fällt mir eine kleine, skurrile Geschichte ein, die von einem kleinen Hund erzählt, der in einen Saal geriet, in dem es nur Spiegel gab. Er sah plötzlich viele Hunde, knurrte böse, bellte und rannte im Kreis hin und her, bis er erschöpft zusammenbrach. Diesem Hund hätte man gewünscht, dass er doch nur ein einziges Mal hätte lächeln sollen und alle Hunde hätten ihm dann freundlich zugelächelt.

Der Frau des Alkoholikers ging es ganz ähnlich. Sie brach  zusammen, weil ihre „Spiegel“ nur ihre extreme, fast blinde, erschöpfte Helferrolle widerspiegelten. Hätte sie doch nur ein einziges Mal auch ihre eigenen Bedürfnisse wirklich ernst genommen und ihre verständlichen, aber dann doch unterdrückten Aggressionen offen „rausgelassen“, hätte sie nur einziges Mal auch Eigenverantwortung statt immer nur Fremdverantwortung gelebt, es hätte ihr so unendlich gut getan. Obendrein wäre damit ihrem Mann wesentlich effektiver geholfen gewesen, wieder schnell abstinent zu werden – denn er wollte ja auf gar keinen Fall seine Frau verlieren, die sich beinahe selbst verloren hätte.

Stanislaus Klemm, Diplompsychologe und Theologe


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Text: Stanislaus Klemm
In: Pfarrbriefservice.de