„Es reicht nicht, nur die Bibel zu lesen“

Die kirchliche Tradition und die Weitergabe des Evangeliums

Tradition heißt Überlieferung. Tradition bezeichnet den Prozess der Weitergabe des Evangeliums. Das Evangelium soll so tradiert werden, dass es den Glauben in den Menschen weckt und ihr Leben verändert. Man darf sich Tradition also nicht als einen mechanischen Prozess vorstellen, bei dem nur eine Sammlung von Texten oder Lehraussagen weitergegeben wird.

Es reicht auch nicht, nur die Bibel zu lesen. Auch die biblischen Texte bedürfen der Auslegung und der Aneignung. Es geht um die Frage, was bedeutet das Evangelium, was bedeutet das Wort Gottes für uns. Diese Frage stellt sich in jeder Generation neu, weil sich die Fragen und Herausforderungen im Laufe der Geschichte verändern. Wir stehen immer wieder neu vor der Aufgabe, die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums zu deuten.

Da auch unsere Vorfahren sich den Fragen ihrer Zeit gestellt und Antworten auf sie gefunden haben, hat sich im Laufe der Geschichte ein Schatz von Erfahrungen und Einsichten gebildet, auf den wir in der Auseinandersetzung mit den Fragen und Herausforderungen unserer Zeit nicht verzichten sollten. Wir sind ja nicht die ersten, die die Bibel lesen oder die sich bemühen, ein christliches Leben zu führen.

Bernhard von Chartres hat im 12. Jahrhundert das viel zitierte Bild von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen, geprägt. In diesem Bild werden zwei Einsichten miteinander verbunden. Zum einen sollten wir die Erfahrungen und Erkenntnisse unserer Vorfahren im Glauben wertschätzen und sie uns aneignen. Zum anderen aber sehen auch Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, weiter als diese.

Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, die Tradition zu bewahren, sondern sie weiterzuführen, indem wir uns den Fragen unserer Zeit stellen und in der Auseinandersetzung mit der Tradition neue Antworten finden. In diesem Sinne gibt es in der Tradition einen Fortschritt im Verständnis des Wortes Gottes.

Bischof Ulrich Neymeyr, Erfurt, in: Pfarrbriefservice.de

Auszug aus dem Statement von Bischof Neymeyr beim Treffen von Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz, des Rates der EKD, der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK) und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD) am 6. März 2017 in Frankfurt am Main, veröffentlicht auf www.dbk.de.

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Bischof Ulrich Neymeyr, Erfurt

Die Tradierung des Evangeliums erfordert von der Kirche die Bereitschaft, ihr eigenes Handeln kritisch zu betrachten und dort zu korrigieren, wo es nicht dem Wort Gottes entspricht. Diese Aufforderung richtet sich auch an den Einzelnen.

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Text: Bischof Ulrich Neymeyr, Erfurt
In: Pfarrbriefservice.de