Austherapiert. Eine Sterbebegleitung

Ein Anruf aus dem Altenheim:

„Agnes H. ist nach der zweiten erfolglosen Chemotherapie zurück im Altenheim. Sie ist desorientiert und traurig - Es wäre gut, wenn sie jemand besuchen könnte ...“

Am Nachmittag mache ich mich mit ein paar Blumen und einer Flasche Saft auf den Weg. Frau H. ist, wie man so sagt, knötterig. „Ich liege hier alleine. Niemand besucht mich, der Tee ist bitter, das Essen schmeckt nicht ...“

Außer Zuhören ist erstmal nichts möglich. Bevor Frau H. wegen der Therapie ins Krankenhaus kam, konnte sie noch gehen, jetzt ist die Beinmuskulatur soweit geschwächt, dass sie nur noch liegen kann. Die Angehörigen wissen, dass die Therapie fehlgeschlagen ist; Frau H. kann sich nicht einmal an die Krankheit erinnern, aber sie weiß, dass irgend etwas nicht stimmt und ist deshalb wütend, ungeduldig und unzufrieden.

Täglich besuche ich sie nun, nach einer Woche hat sie sich an mein Gesicht gewöhnt. Sie klagt über ihre schweren Beine. Ich biete ihr an, die Beine mit Arnika einzureiben. Das gefällt ihr sehr gut. Bis zum Schluss bleibt dies unser einziger körperlicher Kontakt.

Wenn eben möglich, schaue ich jeden Abend kurz bei ihr vorbei. Am Anfang tut es ihr vor allem gut, eine halbe Stunde einfach nur schimpfen zu können. Mit der Zeit beginnt sie, von ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen. Ich höre im Wesentlichen zu, frage gelegentlich etwas nach.

Nach einigen Wochen kommt ihre Liebe zur Musik zurück: sie singt wieder. Inzwischen besuche ich Frau H. meist zweimal die Woche; es gibt richtige Lachabende dank des ebenfalls wieder erweckten Mutterwitzes von Frau H.

Und dann wieder graue Tage mit Schmerzen und Niedergeschlagenheit.

Insgesamt ist Frau H. in diesen etwa 6 bis 7 Wochen, die ich sie nun besuche, spürbar zufriedener geworden: sie schimpft viel weniger. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass die vorher so vermissten Angehörigen wieder häufiger auftauchen. Und jeder Familienbesuch hebt auch wieder für eine Weile die Stimmung.

Nach neun Monaten ist der Krebs zurück. Aggressiver als vorher. Frau H.s Schmerzen sind so stark, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird. Zufällig komme ich gerade, als sie in den Krankenwagen gehievt wird; ich kann sie auf diesem Weg begleiten; sie ist voller Panik und ohne Orientierung. Mein Gesicht scheint der einzige Halt für sie zu sein. Ich spüre, dass diese Situation nahezu unerträglich für sie ist. Sie hört schlecht, sie friert in ihrem Nachthemd, der Arzt spricht nur mit mir, nicht mit ihr.

Es geht Frau H. richtig schlecht, ich besuche sie jeden Tag im Krankenhaus. Hatte sie bisher an mitgebrachten Kleinigkeiten – Blümchen, Pralinen, Mettwürstchen, Gewürzgurke – kindliches Vergnügen, macht ihr nun nichts mehr Freude.

Frau H.s Morphiumdosis wird ständig erhöht, es fällt ihr schwer wach zu sein und zu sprechen.

Am Sonntag habe ich das Gotteslob dabei. Ich schlage es auf und habe vor mir das Lied „Wir sind nur Gast auf Erden ...“ Leise lese ich es vor. Noch vor dem Ende der ersten Strophe protestiert Frau H. heftig. Also schweige ich wieder, atme in ihrem Rhythmus mit und reiche ihr von Zeit zu Zeit etwas zu trinken. Als ich ihr abends noch „Gute Nacht!“ wünschen will, erzählt die Stationsschwester, dass sich die komplette Familie für den nächsten Tag zum Besuch angemeldet habe. Ich habe mich schon von Frau H. verabschiedet und will gerade das Zimmer verlassen, da fällt mir noch etwas ein und ich frage sie, ob sie sich von ihren Kindern verabschiedet habe. Mit Anstrengung öffnet sie noch einmal die Augen, sieht mich an und schüttelt den Kopf.

In der Nacht nach dem Familienbesuch stirbt Frau H.

Barbara Günster, Sterbebegleiterin beim Hospizverein Brilon, In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für September/Oktober 2023

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Text: Barbara Günster
In: Pfarrbriefservice.de