Wut, Hass und Zorn: Wenn man nicht mehr beten kann

"Tochter Babel, Verwüsterin du, gesegnet, wer dir vergilt, was du uns Böses getan! Gesegnet, wer deine Kinder ergreift und sie zerschellt an den Felsen!" (Ps 137,8-9)

Es ist kaum zu glauben, aber dieser Text ist ein Gebet. Er entstammt dem "Gebetbuch" Israels und ist darüber hinaus auch noch heilige Schrift. Er ist ein Stück des Psalters, das Ende des 137. Psalms, der auf eindrucksvolle Art und Weise mit den Worten beginnt: "An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten." (Ps 137,1)

So beeindruckend dieser Psalm ist, so wunderbare Formulierungen er auch enthält, sein Ende ist furchterregend. Ich verstehe, dass solche Texte den modernen Menschen eher von der Bibel wegstoßen, als dass sie ihn zu ihr hinziehen.

Trotz allem Erschrecken über die Brutalität dieses Textes können wir auch etwas von ihm lernen. Dazu möchte ich zuerst einmal zurückblenden in die Zeit des Alten Testamentes: Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Hebräer eine viel unmittelbarere Ausdrucksweise seines Schmerzes, seines Zornes, ja selbst seines Hasses kennt als wir.

Selbst wenn wir wütend sind, wenn wir vor Trauer und Schmerz rasen und wenn wir dann noch den Mut aufbringen zu beten, gehen wir in typisch abendländischer Manier vor. Wir suchen uns zuerst wohlgesetzte Worte, überlegen uns, was man Gott gegenüber sagen kann und was nicht. Wir beten dann um die Gnade der Verzeihung, um den Frieden des Herzens, dass uns Gott die Kraft geben möge, dem anderen zu vergeben … - und wir glauben selbst kein Wort davon.

Ich überzeichne jetzt ganz bewusst. Aber wir kämen doch nie auf die Idee, unseren Zorn Gott ins Gesicht zu schreien. Da fluchen wir lieber. Aber zu beten, wohl gemerkt zu beten "Herr, schlag doch drein!", das bringen wir nicht über die Lippen. Da sagt uns der Verstand, dass das Gott sowieso nicht tun werde, dass Gott ein Gott der Liebe ist und dass ich verstehen muss, auch wenn ich es nicht tue ...

Und die Konsequenz aus dieser Haltung ist, dass wir in solchen Situationen dann meist eben nicht mehr beten. "Ich kann jetzt nicht beten!", sagen Menschen dann. Und damit meinen sie: ‚Ich kann nicht um Frieden oder um Vergebung beten. Und ich kann jetzt auch nicht danken." Und wenn sie das im Augenblick eben nicht können, dann beten sie lieber gar nicht.

Vom Beten in der Bibel

Der Hebräer hat ein ganz anderes Verhältnis zu Gott. Er hat diesen Gott als "ewiges Du" - wie Martin Buber sagt - weit ernster genommen. Er kann ihm auch seine Trauer, sein Unverständnis, seinen Zorn ins Gesicht schreien. Er darf ihn anschreien und er erlebt dabei, dass Beten Befreiung sein kann.

Gott ist kein Gott, vor den ich nur "abgeklärt" treten dürfte - so nach dem Motto: "In meinem Zorn fluche ich still vor mich hin und fühle mich unheimlich schlecht dabei und wenn dann alles vorüber ist, dann kann ich wieder vor Gott treten ..."

Der Hebräer tritt vor Gott, wenn es "am dicksten" ist. Und er schleudert ihm dabei Sätze entgegen, die für unsere Ohren ungewohnt sind, die nur aus seinem Schmerz oder Zorn kommen: "Gesegnet, wer deine Kinder ergreift und sie zerschellt an den Felsen!" (Ps 137,9)

Der Hebräer tut dies, weil er weiß, dass er Gott seinen Schmerz ins Gesicht schreien darf. Und er tut dies, weil er letztlich weiß, dass dieser aus ihm selbst herausschreiende Wunsch bei Gott am besten aufgehoben ist. Gott, der Herz und Nieren prüft, kann dieses Beten einordnen, er kann damit umgehen.

Wir lernen aus dem Beten Israels, dass wir uns wirklich in allen Situationen - selbst im rasenden Zorn - an Gott wenden dürfen.

Pfarrer Dr. Jörg Sieger

Dieser Text stammt von Pfarrer Siegers Internetseite http://www.joerg-sieger.de/glaube.htm. Dort sind weitere Texte zum Thema „Beten“ zu finden, die in Pfarrbriefen abgedruckt werden dürfen. Der dort angebotene Glaubenskurs ist in Buchform beim Tyrolia-Verlag erschienen unter dem Titel „Wie können wir heute glauben“.

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Das Schwerpunktthema für September 2010

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Text: Pfarrer Dr. Jörg Sieger
In: Pfarrbriefservice.de