Wo wohnt Jesus?

Die Antwort darauf veränderte sich für den Schriftsteller Alois Prinz im Laufe seines Lebens

Als Kind war für mich die Sache klar: Jesus wohnt in der Kirche. Wo auch sonst? Außerhalb der Kirche waren die Schule, der Fußballplatz, und da waren meine Freunde. Jesus konnte ich mir da damals nicht vorstellen. Gott war weit weg, im Himmel. Natürlich war Jesus für mich da: in der Kirche eben. Das bewiesen zum Beispiel die vielen Jesus-Bilder darin. An der Seitenwand waren die Bilder seines Lebens, von der Geburt in Bethlehem bis zur Kreuzigung auf Golgatha. Als ich Ministrant wurde – das war zu der Zeit schon lange vor der Erstkommunion durchaus üblich –, grenzte ich den Wohnort von Jesus noch weiter ein. Ich kniete auf den marmornen Stufen des Altars und beobachtete fasziniert, wie der Pfarrer nach der Eucharistiefeier den Kelch mit den Hostien in dem Tabernakel verschloss. In diesem goldverzierten Kasten, der auf einer Säule stand, so dachte ich, wohnt also Jesus. So lange jedenfalls, bis er wieder in der nächsten Messe herausgeholt wird.

Dann kam die Erstkommunion, und ich musste meine Vorstellung davon, wo Jesus wohnt, wieder ändern. Die Hostien blieben ja nicht einfach im Tabernakel und auch nicht im Kelch oder in der Hostienschale. Sie wurden an die Gläubigen verteilt. Jesus musste also auch „teilbar“ sein. Jeder, der eine Hostie bekam, trug ihn mit sich fort. Das war ein geheimnisvoller Gedanke, und ich war schon gespannt, wie sich das anfühlt, Jesus in sich zu haben. Am Tag der ersten heiligen Kommunion war es dann so weit. Ich weiß es noch genau: Wir Mädchen und Jungen standen um den Altar, Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster, und der Weihrauch stieg zur Decke empor. Es war ein feierlicher Moment, als der Pfarrer uns die Hostien reichte. Im Kommunionunterricht hatte ich gelernt, dass die geweihten Hostien das Fleisch von Jesus sind. Danach nahm ich also wirklich Jesus in meinen Mund und schluckte ihn hinunter. Ich hatte erwartet, dass etwas Wunderbares passiert, dass ich mich von einem Moment auf den anderen verändere, verwandle. Aber nichts geschah. Und doch hatte ich Jesus in mir. Ich war jetzt sein Wohnort. Aber was bedeutet das?

Viele Jahre später reiste ich das erste Mal in das Heilige Land, nach Israel. Ich besuchte die Orte, wo Jesus gelebt hatte, als wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut, den man damals anfassen konnte. Ich war am Jordan, wo er getauft wurde. In Nazareth, wo er bei seiner Familie gewohnt hat. Und in Kafarnaum am See Genezareth, seiner zweiten Heimat. In Kafarnaum kann man die Mauerreste der Häuser sehen, in denen die Jünger Jesu wie Johannes und Petrus gewohnt haben. Das Haus, das Petrus gehört haben soll, ist größer als die anderen und hat eine runde Form. Man nimmt an, dass Jesus dort gewohnt hat. Jesus selbst hat gesagt, dass er keinen Platz hat, wo er schlafen kann. Heute würde man sagen, er hatte keinen festen Wohnsitz. Man kann das auch so verstehen, dass er überall wohnt, zu allen Menschen kommt.

Später wurde er dann in Jerusalem verurteilt und ans Kreuz geschlagen. Am dritten Tag, so steht es in der Bibel, ist er auferstanden und dann zu seinem Vater in den Himmel aufgefahren. Seither ist er aber nicht weg, sondern kann von Menschen immer wieder erfahren werden, so, als ob er leibhaftig anwesend wäre. Der heilige Paulus war einer der Ersten, der das erlebt hat, als ihn auf dem Weg nach Damaskus Jesus wie ein Blitz aus dem Himmel zu Boden warf und zu ihm sprach. Im Mittelalter gab es fromme Frauen und Männer, man nannte sie Mystiker, die glaubten, dass jeder Mensch eine Seele hat, die Jesus aufnehmen kann. Teresa von Avila, die heute als Heilige und Lehrerin der Kirche verehrt wird, nannte die Seele eine Wohnung für Jesus. Wenn er darin anwesend ist, so beschreibt es Teresa, kann man mit ihm reden wie mit einem Freund. Als ihre Mitschwestern sich beschwerten, dass sie vor lauter Arbeit in der Küche nicht zum Beten kämen, meinte Teresa: Gott wohnt auch zwischen den Kochtöpfen. Damit meinte sie, dass man Jesus überall erfahren kann, in der Natur, beim Lesen eines Buches, bei der Arbeit, beim Spiel.

Herbeizwingen kann man ihn allerdings nicht. Man kann sich nur bereit machen. „Gott wohnt, wo man ihn einlässt“, sagt ein jüdisches Sprichwort. Diese Erfahrung kann man vor allem dann machen, wenn man für andere da ist, für schwache, arme, hilfsbedürftige Menschen. Es sind Momente, in denen man ganz gewiss ist, von guten Mächten beschützt, von einem unerschütterlichen Vertrauen getragen zu sein.

Wie gesagt, eine Wohnung für Jesus zu werden, das kann man nicht „machen“, dafür gibt es keine Technik. Jesus lässt sich nicht zwingen. Er gibt sich als Geschenk. Man kann sozusagen nur die Wohnung für ihn herrichten – und dann, wenn er darin einzieht, dankbar dafür sein.

Alois Prinz
Quelle: Begleitheft zur Erstkommunion 2018. www.bonifatiuswerk.de, In: Pfarrbriefservice.de

Alois Prinz ist Schriftsteller, Autor zahlreicher preisgekrönter Biografien (u.a. Deutscher Jugendliteraturpreis, Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendlitatur) und lebt mit seiner Familie am Stadtrand von München.

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Text: Alois Prinz, Quelle: Begleitheft zur Erstkommunion 2018. www.bonifatiuswerk.de
In: Pfarrbriefservice.de