Vier Tage obdachlos

Ein Interview mit Inge Hönig über eine ungewöhnliche Selbsterfahrung

Wie ist es, ohne Wechselkleidung, ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf zu leben? Das bekommt man nur heraus, wenn man es selbst ausprobiert. Davon ist Inge Hönig aus Erlangen überzeugt. Mit ihren 69 Jahren nahm sie im Juli 2015 vier Tage an einem sogenannten Straßenretreat in Nürnberg teil. Retreats, also Übungen, sind spirituell gegründete soziale Aktionen im Zen-Buddhismus. Zwölf Frauen und Männer aus Deutschland und der Schweiz nahmen in Nürnberg daran teil. Über eigene und fremde Obdachlosigkeit spricht Inge Hönig, die als Sozialarbeiterin gearbeitet hat, im Interview.

Vier Tage wie eine Obdachlose zu leben – das klingt überschaubar und mehr nach einem Event.

Inge Hönig: Es ging uns als Gruppe nie darum, ein Event zu veranstalten. Für mich waren diese vier Tage eine Gelegenheit, mich besser kennenzulernen.

Was haben die Obdachlosen davon?

Inge Hönig: Wenn ich wahrnehmen kann, dass ich Angst bekomme oder jemand anderes ablehne, kann ich besser damit umgehen. Manchmal lehnt man ja jemanden ab, weil man seine eigene Angst nicht spüren will. Die Meditationen und Gespräche in der Gruppe haben mir geholfen, mich diesen Gefühlen zu stellen. Meine Angstschwelle ist seitdem niedriger. Ich kann ehrlicher mit mir selber und auch mit anderen Menschen umgehen.

Was war für Sie an diesen vier Tagen besonders herausfordernd?

Inge Hönig: Sich darauf einzulassen, um das Alltägliche zu bitten. Wir hatten ja wirklich nichts außer einer kleinen Flasche Wasser und einer Decke. Wir schliefen drei Nächte auf einem Pappkarton, zugedeckt nur mit unserer Decke auf einer Wiese mitten in Nürnberg. Hatten wir Hunger, baten wir andere Menschen, uns etwas zu geben, z.B. auf dem Markt. Bereits im Vorfeld der Aktion sollten wir Geld für ein soziales Projekt von unseren Verwandten und Bekannten erbitten. Auch das fiel mir sehr schwer. Wir modernen Menschen sind ja alles Macher. Früher war eine meiner Lebenssätze: Was ich nicht selber kann, mache ich nicht. Dieses totale Angewiesensein auf andere, auch in der Gruppe, war für mich eine existenzielle Erfahrung.

Wie begegnet man Obdachlosen am hilfreichsten?

Inge Hönig: So wie jedem anderen auch. Wenn ich jetzt einen Obdachlosen sehe, grüße ich ihn, und wenn ich etwas Zeit habe, frage ich ihn, wie es ihm geht und ob er sich unterhalten möchte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Obdachlose dankbar sind für ein Gespräch.

In dem ich ihnen sage, was sie alles anders machen müssten?

Inge Hönig: Nein. Ganz wichtig ist es, ihnen nicht auf der Mitleidsebene zu begegnen und ihnen ungefragt Ratschläge zu erteilen. Das funktioniert nicht.

Was dann?

Inge Hönig: Ein ehrliches Interesse daran, welche Geschichte dieser Mensch hat, was er erlebt hat und warum er in dieser Situation ist. Wichtig ist auch, ihm seine Geschichte zu lassen und ihn nicht ändern zu wollen.

Keine Geld- oder Essensspenden?

Inge Hönig: Sinnvoller als Geld kann gespendetes Essen sein. Aber auch da ist es besser zu fragen: Was möchten Sie haben? Für viele Obdachlose ist das sehr fremd, nach ihren Wünschen gefragt zu werden.

Für Sie sind Obdachlose …?

Inge Hönig: Mitmenschen.

Was wünschen Sie sich für den Umgang mit ihnen?

Inge Hönig: Respekt und Akzeptanz.

Mit dem im Vorfeld des Straßenretreats gesammelten Geld unterstützte die Gruppe um Inge Hönig ein Kunstprojekt für Wohnungslose der Nürnberger Straßenkreuzer-Uni (http://www.strassenkreuzer.info/strassenkreuzer-uni.html). „Der Mensch braucht nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Nahrung für die Seele“, formulierte Inge Hönig das Anliegen der Gruppe.

Interview: Elfriede Klauer, Pfarrbriefservice.de

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de