Sonntagsrhythmus

Heute tut es mir leid: Als ich vor vielen Jahren für eine Zeitschrift arbeitete, saßen wir meist auch sonntags im Büro. Überschriften, Vorspänne, Bildzuschriften … Erst abends war das Blatt fertig, ich auch, und vom Sonntag hatte ich nicht viel gehabt.

Als ich andere Aufgaben übernahm, waren meine Sonntage plötzlich frei. Doch mit dieser neuen Freiheit umzugehen, will gelernt sein. Anfangs saß ich tatenlos da, blickte ins Leere und wurde von mancher Sonntagsdepression ereilt.

Ich beschloss, meinen Sonntag systematischer zu planen und bewusst zu genießen. Bei der Kleidung fing es an, sie sollte sich vom Alltag unterscheiden. Nach dem Gottesdienst nahm ich mir vor, mit meiner neunzigjährigen Freundin L. zu telefonieren, in aller Ruhe, eine Dreiviertelstunde lang. Mittags kochte ich etwas Schönes, nur für mich. Ich deckte den Tisch, zündete eine Kerze an und genoss mein Mahl in aller Ruhe. Nach einem kleinen Mittagsschlaf ging ich Kuchen kaufen und besuchte meinen besten Freund, der schon Tee gebrüht und den Tisch gedeckt hatte. Zwei Stunden lang ordneten wir Politik, Kirche, Fußball: die ganze Welt, jeden Sonntag. Mein Rückweg wurde ein ordentlicher Spaziergang, die Bewegung tat gut. Für den Abend suchte ich mir etwas im Fernsehen aus, nahm mir ein Buch vor oder schrieb Tagebuch.

So schuf ich meinem Sonntag neue feste Inhalte, die sich bis heute bewähren. Für spontane Anrufe und Begegnungen will ich flexibel bleiben, doch meine Sonntage haben nun ein Geländer. Ich habe mir sogar angewöhnt, meine Vorhaben samstagmorgens aufzuschreiben und sonntagabends abzuhaken. Inzwischen haben meine Wochenenden mehr Rhythmus und Festlichkeit, auch die beginnende Woche profitiert davon.

Hinrich C. G. Westphal
aus: sonntags. Erfindung der Freiheit. Verein Andere Zeiten, 2009. www.anderezeiten.de. In: Pfarrbriefservice.de

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Das Schwerpunktthema für Juli 2014

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Text: Hinrich C. G. Westphal
In: Pfarrbriefservice.de