Sich unterbrechen lassen: Vom Sinn des Tagzeiten-Gebets

Die einen stehen mit den Sieben-Uhr-Nachrichten auf, die anderen beginnen den Tag mit einem Kaffee in der U-Bahn. Die Mittagspause richtet sich nach dem Schulschluss der Kinder oder beschränkt sich auf ein Brötchen zwischen Telefon und Computer. Regelmäßige Zeiten zum Atemholen scheinen nicht in unsere Zeit zu passen. Wirklich nicht?

Martina Ewers beginnt im Kindergarten früh um 7 Uhr mit der Arbeit, wenn die Kleinen kommen, damit ihre Eltern zur Arbeit können. Sie schlafen fast noch im Stehen, wenn sie abgeliefert werden. Ole fragt: „Kommen heut wieder die Glocken?“ – „Klar.“, sagt Martina. - „Und falten wir dann wieder die Hände?“ – „Natürlich.“ Ole will die ganze Klarheit: „Und beten wir dann auch wieder?“ –„Ja, Ole.“ Martina ist etwas ungeduldig, weil noch fünf andere Kinder ihre Winterklamotten loswerden wollen.

Was Ole einfordert, ist seit vier Wochen Ritus im Kindergarten: Wenn die Glocke der Kirche nebenan läutet, nämlich um acht und um zwölf Uhr, dann falten alle, auch die Putzfrau und der Zivi, die Hände – egal, was sie grad tun - und beten: „Wo ich gehe, wo ich stehe bist du, lieber Gott, bei mir. Wenn ich dich auch niemals sehe, weiß ich immer: du bist hier. Amen“. Manchmal klappt das nicht im Getöse der Rutsche oder auf der Schaukel, aber das Prinzip gilt. Und die Kleinen fragen inzwischen danach. Ole kommt mit seiner Frage schon in den Raum. Es hat ihn also bereits auf dem Weg beschäftigt.

Wenn man dann zusieht um acht, zeigt sich ein kleines Wunder. Die Glocken gehen los, und es ist, als würde man einen Film anhalten. Alle bleiben stehen, die Kinder frieren ein in ihren Bewegungen, manche schließen die Augen. Man brabbelt vor sich hin, beim Frühstück im Raum wird im Chor gebetet. Die Kinder finden es reizvoll, alles zu unterbrechen und den heiligen Moment zu kosten. Vielleicht wird das später anders, routinierter. Aber jetzt hat es noch einen großen Zauber.

Selbst Frau Kaldewey, die Leiterin, hat neulich am Telefon ihr Gespräch unterbrochen und dem Verwaltungsbeamten aus dem Kirchenkreis am anderen Ende erklärt, man bete hier immer mit den Glocken, und sie werde jetzt kurz innehalten – zusammen mit den Kindern. Das hat Herrn Marquardt auf der anderen Seite der Schnur beeindruckt, er hat es in der Abteilung erzählt. Er hat daraufhin bei der Kirche neben dem Amt schriftlich angefragt, warum es eigentlich keine Gebetsglockenzeiten gebe. Wochen später hat der Kirchenvorstand eine kleine Maschine installieren lassen, und nun läuten die Glocken auch da. Um acht, um zwölf und um achtzehn Uhr. Anfang, Mitte, Ende. Die alten Eckzeiten für den tätigen Tag. Anfangen und Aufhören. Nicht immer weiter. Sich unterbrechen lassen.

Herr Marquardt hat dann noch mal nachfragt bei der Kindergartenleiterin, was sie denn immer beten, die Kleinen. Sie hat’s ihm gemailt. Nun liegt dieses einfache Gebet auf seinem Schreibtisch. Noch betet er es nicht, aber er sieht hin, wenn die Glocken läuten. Er hat eigentlich nie gebetet bislang. In der Kirche schon, aber nicht allein. Das kommt ihm seltsam vor. Und im Büro sowieso. Aber wenn er an die Kinder denkt, dann wird ihm eigentümlich warm. Und es lässt ihm keine Ruh, bis er eines Tages rüber fährt und sich diese Zauberminute um 12 Uhr anschaut. So was hat er noch nie gesehen. „Also, was beten Sie doch gleich?“, fragt er Frau Kaldewey noch mal wie einer, der auf der Schwelle steht und die Worte sucht, die er eigentlich kennt. Sie spricht es ihm vor. Und am nächsten Tag fängt er auch an.

An Herrn Marquardt, Frau Kaldewey und den Kindern spürt man ein wenig die Freude an geregeltem Leben. Viele Menschen müssen ihre Zeit selbst ordnen, egal ob arbeitslos oder freiberuflich oder zuhause schaffend. Auch die Freizeit ist nicht automatisch durchgeplant. Überhaupt muss ich jetzt die Rente selbst wählen, die Art der Schule, die Krankenversicherung. Dies Selber-Wählen-Müssen ist mit Arbeit und oft auch mit Ängsten verbunden. Da ist manche froh, wenn es im Ablauf des Tages, der Woche, des Jahres ein paar Korsettstangen gibt, die zeigen, was verlässlich wiederkehrt. Geburtstag, Weihnachten, Trainingszeiten, Termine, die ich nicht beliebig verändern kann. Manche ziehen sich selbst solche Rhythmen in ihr Leben ein. Sie lassen sich unterbrechen, verlieren sogar Zeit, gewinnen aber einen Moment Auszeit, der sie neu und frisch besonnen in ihr Tun entlässt. Ein Durchatmen.

Wichtig ist, dass diese kleinen Rituale immer zur gleichen Zeit geschehen und wenn’s geht auch am gleichen Ort. Also nicht nach Lust. Das lernt ja jedes Kind, dass es Dinge gibt, die man durchhalten muss, wenn man was werden will: Ich höre die Glocken, ich bleibe stehen, ich bete, ich gehe weiter. Wenn ich das einige Monate tue, wird es so selbstverständlich wie Zähneputzen und Essen. Mit jedem neuen Glockenschlag werden dann die Erfahrungen der Besinnung, des Stillhaltens automatisch in mir wachgerufen. Die Glocken hüllen mich äußerlich ein in einen Klangraum, und in mir wecken sie Bilder von den vielen Malen vorher, wo ich still blieb. All diese stillen Momente sammeln sich in mir als Erfahrungsschatz. So wie ich alle Frühstücke meines Lebens auf einmal ahne, wenn ich beim Bäcker vorbeigehe und den frischen Brötchenteig rieche.

Thomas Hirsch-Hüffell
Thomas Hirsch-Hüffell ist Pastor und leitet das „gottesdienst institut nordelbien“ in Hamburg.

Aus: Magazin Andere Zeiten 2/2006, Verein Andere Zeiten, www.anderezeiten.de

 

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Das Schwerpunktthema für September 2010

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Text: Thomas Hirsch-Hüffell
In: Pfarrbriefservice.de