Pilgern

Beten mit den Füßen

Sie nehmen den Pilgerstab in die Hand, packen den Rucksack und brechen auf. Für eine Strecke, die ein Auto in einer halben Stunde zurücklegt, brauchen sie einen Tag. Pilger entdecken die Langsamkeit wieder und kehren verändert in den Alltag zurück.

„Wer das Elend bauen will, der mache sich auf und sei mein Gesell’ wohl auf St. Jakobs Straßen“ – so fängt eines der ältesten deutschen Pilgerlieder an. Das „Elend“ war die Fremde, in die ein Pilger aufbrach, ob nun nach Rom, nach Jerusalem, nach Santiago de Compostela zum Grab des Apostels Jakobus oder zu irgendeinem anderen Wallfahrtsort fern der eigenen Heimat. Pilgern war immer der Beginn eines großen Abenteuers mit ungewissem Ausgang, aber zumindest mit einem klaren Ziel: das Heil für die Seele zu finden.

Im Christentum hat das Pilgern eine alte Tradition. „Leute des Weges“ haben sich die Christen in den ersten Jahrhunderten genannt. Ein Leben lang waren sie unterwegs zu Gott auf der Suche nach dem Heil. Diese Welt sei ihnen kein Zuhause, weil ihre wahre Heimat im Himmel ist, so wurde es ihnen immer wieder gepredigt. Im Neuen Testament heißt es im Hebräerbrief: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Beim Pilgern konnte man dem Paradies schon hier im Elend dieser Welt ein Stück näher kommen.

Von ersten, namentlich bekannten Pilgern hören wir aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Es waren zwei hoch gebildete Frauen, Kaiserin Helena und Egeria Silvia, die unabhängig voneinander zu den Stätten im Heiligen Land zogen. Sie wollten mit ihren eigenen Augen sehen und mit ihren Füßen den Boden betreten, wo Jesus gelebt und gewirkt hatte, wo er litt und starb und wo er auferstand. Die frommen und zugleich spannenden Berichte dieser Pilgerinnen wirkten wie eine Werbebroschüre: viele Menschen machten sich auf, um ihren Spuren zu folgen. Pilgern wurde zu einer Massenbewegung, zu einer Art frommen Tourismus auf festgelegten Straßen, die im Laufe der Jahrhunderte ein Wegenetz durch ganz Europa bildeten. Herbergen entstanden an diesen Wegen und Kirchen wurden gebaut. Die Pilger transportierten ihre Eindrücke, ihre Erkenntnisse und das Wissen aus fernen Ländern und Kulturen in ihre Heimat; die Pilgerwege waren so etwas wie ein „Internet“ des Mittelalters.

Dennoch war und ist christliches Pilgern zuallererst religiös motiviert. Die geistige Kraft der heiligen Orte soll den Glauben stärken: „Die Heiligen waren hier, und nun auch ich!“ – mag mancher Pilger gesagt haben, wenn er endlich am Ziel angelangt war. Der lange und mühsame (Fuß-)Weg dahin diente der Vorbereitung mit allem, was dazu gehörte: Kälte und Entbehrung, Gefahren durch Tiere und Menschen, Blasen an den Füßen, Strauchdiebe und Beutelschneider, Einsamkeit und Verzweiflung, aber auch die Freude an der Schönheit der Natur und der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Pilgern war und ist keine Individualreise. Pilger suchen zumindest für weite Strecken ihres Weges die Gruppe. Anderen „Gesell“ zu sein heißt, bei drohenden Gefahren nicht allein, in Krankheit oder bei Unfällen versorgt zu sein und für andere bei falscher Anklage in der Fremde zum Zeugen werden zu können. Pilger tun sich zusammen, um auf dem Weg zu singen und zu beten, um sich durch Erzählungen die Zeit zu vertreiben und um gemeinsamen zu essen und zu teilen, was jeder hat.

Zum Pilgern gehört auch die ganz menschliche Abenteuerlust. Es brannte vielen im Reiseschuh, und die Sehnsucht nach der Ferne wie die Hoffnung, dort das Glück des Lebens zu finden, ließ die frommen Globetrotter aufbrechen. Bis ans Ende der Welt wollten sie vordringen, und auf ihren Wegen dorthin erlebten sie sich selbst ganz anders als in der Routine des engen Alltagslebens. Die Pilger stießen auf ungeahnte Hindernisse wie hohe Berge oder breite reißende Flüsse. Sie mussten weite Hochebenen unter sengender Sonne durchqueren und lernten ihre Grenzen kennen.

Pilgern hat Menschen zu allen Zeiten fasziniert und verändert. Es verhilft vielen neu oder ganz anders zum Glauben an Gott; es erweitert Horizonte und fördert das Staunen und die Freude an der Vielfalt der Menschen, Kulturen und Regionen, die auf dem Weg begegnen. Und Pilgern schafft eine tiefe Befriedigung, wenn das Ziel erreicht ist.

Der Autor Alexander Röder ist Hauptpastor von St. Michaelis in Hamburg.
Quelle: Andere Zeiten Magazin zum Kirchenjahr 2/2002, www.anderezeiten.de

 

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Text: Alexander Röder
In: Pfarrbriefservice.de