Leere Kirchen als prophetische Warnung

Warum Corona Chance und Gefahr zugleich für die Kirche ist – Ein Interview mit Tomáš Halík

Der Theologe und Soziologe Tomáš Halík skizziert in seinem neuen Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“, warum für eine wirkliche Erneuerung der Kirche eine spirituelle Vertiefung und ein echter Dialog mit der Welt nötig sind.

DOMRADIO.DE: Jetzt feiern wir schon das zweite Osterfest unter Corona-Bedingungen. Sie aber sehen in den leeren oder fast leeren Kirchen auch Grund für Optimismus. Woher nehmen Sie den nach über einem Jahr Corona-Pandemie?

Prof. Tomáš Halík (Priester und Soziologe): Also, in unserem Land sagt man: Ein Optimist ist ein Mensch, dem die Informationen fehlen (lacht). Also, ich bin kein Optimist. Ich bin ein Mann der Hoffnung. Ich meine, es gibt zwei Aspekte in dieser Zeit. Auf der einen Seite ist diese Situation für die Kirche eine Herausforderung, neue Wege zu suchen und zu finden. Auf der anderen Seite sind die leeren Kirchen wie eine prophetische Warnung: So kann die Kirche aussehen, wenn keine Veränderung, keine Vertiefung kommt.

DOMRADIO.DE: Eine zentrale Aussage in Ihrem Buch ist, dass die Kirchen spirituelle Zentren für Begegnung und Gespräch sein sollen. Doch manchmal habe ich den Eindruck, dass es den Menschen ohne Gott auch ganz gut geht. Gibt es tatsächlich diesen Hunger nach Gott, nach Spiritualität?

Halík: Ohne Gott – geht das? Ja, es geht zumindest ohne unsere gewöhnliche Vorstellung von Gott, ohne Gott als eine naturwissenschaftliche Hypothese geht es schon. Dieser Gott ist tot – da hat Nietzsche ganz recht. Aber Gott als Urquelle des Seins, der Grund des Seins, wie Meister Eckhart sagt, Gott der Liebe, Hoffnung, des Glaubens und der schöpferischen Tätigkeit, der Menschen inspirierende Gott, der in der Welt in Liebe, Hoffnung und Glaube gegenwärtig ist – ja, dieser Gott ist lebendig. Für viele Leute ist er vielleicht anonym, aber doch: Er ist da!

DOMRADIO.DE: Sie nennen in Ihrem Buch als positives Gegenbeispiel zur Kirchenkrise die akademische Pfarrgemeinde in Prag, wo Sie auch Pfarrer sind. Da geht es um intensive geistliche Begleitung der Menschen, eine spirituelle Begleitung der Suchenden statt einer einfachen Missionierung. Wie funktioniert das?

Halík: Ja, ich möchte jetzt nicht nur unsere Pfarrgemeinde loben und preisen (lacht). Es gibt auch andere gute und ausstrahlende christliche Zentren. Ich meine, es ist sehr wichtig, verschiedene Elemente zu vereinigen: Auf der einen Seite ist die Verkündigung wichtig; die Predigt muss intelligent sein, im Dialog stehen und versuchen, auf die wirklichen, echten Fragen der Menschen überzeugende Antworten zu geben. Es muss eine Sprache aus dem Herzen zu den Herzen der Menschen sein.

Wichtig ist auch eine schöne Liturgie. Aber genauso wichtig ist die persönliche spirituelle Begleitung, das ist unsere Erfahrung: Ich habe persönlich mehr als 2000 junge Leute getauft, nach je zwei Jahren des Katechumenats, das sie durchlaufen haben. Und es kommen immer wieder junge Menschen – und das in einem Land, das als eines der atheistischsten Länder der Welt gilt. Aber was ist jetzt das Geheimnis der Vitalität unserer Gemeinde? Es ist die Dimension der persönlichen, spirituellen Begleitung! Wir haben kreative Exerzitien, wir bieten Meditationskurse an. Wir arbeiten sehr viel mit Gegenwartskunst.

Und dann sind wir sehr ökumenisch aufgestellt. Ich sage immer: Alle sind eingeladen, niemand wird gezwungen. Also: Verkündigung, Liturgie, Bildung und spirituelle Begleitung sind wichtig. Das gilt auch für die Teilnahme am bürgerlichen Leben, unsere Mitglieder sollen sich in verschiedenen Initiativen, etwa für Ökologie, für Menschenrechte oder ähnliches engagieren. Denn ich möchte nicht, dass die jungen Leute nur in einer Art geschlossenen, spirituellen Welt leben. Nein, die Leute müssen gegenwärtig in dieser Welt sein.

DOMRADIO.DE: Sie mahnen in Ihrem Buch eine Offenheit der Kirche an und erinnern z.B. an das Gespräch Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Warum ist denn eine Veränderungsbereitschaft der Kirche wichtig für eine spirituelle Vertiefung? Könnte es nicht auch sein, dass der Rückzug aus der zeitgeistigen Welt mit all ihren Versuchungen der bessere Weg sein könnte?

Halík: Nein, kein Rückzug aus der Welt, wir sind keine Sekte. Wir müssen die heutige Welt und Kultur ernst nehmen. Wir sind in die Gesellschaft von heute gesandt – wir sollen da nicht unkritisch, nicht oberflächlich sein und wir dürfen uns nicht unkritisch anpassen. Aber wir sollen in einen Dialog eintreten, wir sollen die Zeichen der Zeit lesen. Evangelisierung sollte nicht etwas wie die evangelikale oder „katholikale“ Mission sein. Das muss in einem Dialog mit der heutigen Kultur geschehen, eine Inkulturation! Ohne Inkulturation ist Evangelisierung nur Indoktrination, und besonders meine Generation und in diesem Teil der Welt reagieren die Menschen auf Indoktrination allergisch.

DOMRADIO.DE: Und doch fragen sich jetzt schon viele: Wer wird denn überhaupt noch nach Corona in die Gottesdienste zurückkommen? Wie groß ist denn die Gefahr, dass wir uns als Christen einfach an die leeren Kirchen gewöhnen und dann nicht mehr die richtigen Schlüsse aus der Krise ziehen?

Halík: Wir werden sehen! Unser Gott ist ein Gott der Überraschung. Ja, vielleicht einige oberflächliche Christen, denen die Teilnahme an der Messe nur noch ein Brauch war, werden jetzt erfahren, dass es auch ohne Sonntagsmesse geht. Die kommen vielleicht nicht zurück. Aber andere werden kommen! Jetzt in der Krise werden viele Menschen mit sehr wichtigen Fragen konfrontiert; mit Leiden, mit Schmerz, mit Tod. Und das weckt metaphysische, spirituelle, geistliche Fragen. Und wir sollen nicht oberflächlich mit alten Phrasen darauf antworten. Sondern wir sollen diese Leute begleiten, uns einfühlen und zusammen mit ihnen die persönlichen Antworten suchen.

Wenn die Kirche das anbieten kann, dann habe ich keine Angst, dass die Kirche leer bleibt. Vielleicht die Kirchengebäude schon, aber das ist nicht die Kirche. Wir sollen die Grenzen, die institutionellen Grenzen, die mentalen Grenzen des heutigen Christentums überschreiten und neue Wege finden.

DOMRADIO.DE: Was gibt Ihnen denn jetzt die Hoffnung, auch mit Blick auf das Osterfest in der Coronakrise, dass die Kirche die Menschen zukünftig mit der Botschaft Jesu erreicht?

Halík: Die Predigt und die Verkündigung sollten eine Brücke sein zwischen dem Text, zwischen der Bibel und unserer Erfahrungswelt. Die ist gerade voll von neuen Erfahrungen – von Schmerz, Leid und Tod und so weiter. Und ja, die Ostergeschichte sollen wir so interpretieren: Der Schrei Jesu am Kreuz zum Beispiel ist sehr aktuell: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das klingt nach Verzweiflung. Aber es ist eine Frage. Es ist ein Gebet und wir sollen vielleicht unsere vielen Fragen ins Gebet verwandeln und vielleicht unsere Gebete auch in Fragen. Wir sollen Gott fragen und geduldig auf die Antwort warten.

Interview: Mathias Peter, www.DOMRADIO.DE, In: Pfarrbriefservice.de

Buchtipp von DOMRADIO.DE
Tomáš Halík: Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens. Verlag Herder 2021, 20 Euro

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Mit der Fastenzeit 2020 begann die Phase, in der öffentliche Gottesdienste über Wochen und Monate nicht möglich waren.

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Text: Mathias Peter, www.DOMRADIO.DE
In: Pfarrbriefservice.de