Leben lebt vom Schenken

Leben lebt vom Schenken. Das habe ich auf den Philippinen gelernt. Dort begegnete ich auf der Insel Mindoro dem Urvolk der Mangyanen. Vor Jahrhunderten waren die Inselbewohner wohlhabend. Hier wurde mit Seide, Porzellan und Tee aus China gehandelt. Die Mangyanen verkauften Bienenwachs und Perlen und konnten gut von den Einkünften leben. Aber das ist längst vorbei. Immer mehr Land wurde ihnen genommen. Umweltzerstörung und Waldrodung hat die Urbevölkerung verarmen lassen. Ihr Lebensraum wird bis heute täglich kleiner. Sie wollen ihr Land nicht verkaufen, aber noch immer schaffen es ausländische Investoren mit trickreichen Verträgen und zahlreichen Anwälten, den Ureinwohnern ihr Land zu nehmen. 

Dabei sagen die Mangyanen: "Unser Land ist nicht verkäuflich. Wie will man den Morgentau verkaufen, der sich in aller Frühe über unser Land legt. Wer kann die Geschichten vom Glück und von der Not unseres Landes kaufen und die Erde, aus der wir hervorgegangen sind. Unser Land ist unser Leben, unser Glück und unsere Zukunft. Und Leben, Glück und Zukunft kann man nicht kaufen, man kann es nur verschenken."

Doch Investoren haben das Land gekauft. So behaupten sie es zumindest und ihre Anwälte sagen: Alles hat seine Richtigkeit. Aber die Mangyanen erleben die Investoren nie als glückliche Menschen. Sie wirken gehetzt und nervös. Sie fahren in klimatisch verriegelten Autos durch das Land, ohne die Luft dort zu atmen. Sie behaupten, dass ihnen das Land gehört, aber sie sind nie da, schicken immer Fremde, um es zu bearbeiten.

"Nein", sagen die Mangyanen, "Land kann man nicht kaufen, weil man das Leben nicht kaufen kann. Irgendwann werden die Investoren das merken und geben uns unser Land zurück." So positiv denken die Mangyanen. Sie sind bekannt für ihre Gastfreundschaft. Wenn ein Fremder in ihr Land kommt, begrüßen sie ihn mit einem Gedicht: "Mein lieber Freund, sei hier willkommen! Wo kommst du her? Lass uns einen Moment reden in einer fröhlichen und freundlichen Art. Aber wer immer du bist, wir möchten bei dir sein." Auch so eine Begrüßung kann man nicht kaufen. Sie ist ein Geschenk. Sie ist unverkäuflich, wie das Land und die Geschichte der Mangyanen. Kaufen mag Spaß machen, Bedürfnisse befriedigen. Aber glücklich macht nur das Schenken.

Das habe ich von Mangyanen gelernt. Sie leben in ganz einfachen Verhältnissen. Sie leben von dem, was Gott ihnen und was sie einander schenken, und sie beschenken ihre Gäste wie Freunde. Das Leben dieser einfachen Menschen auf den Philippinen hat in mir eine Frage wachgerufen: "Was bleibt von meinem Leben übrig, wenn ich all das abziehe, was ich mir gekauft habe? Wie viel Geschenk, wie viel Glück bleibt übrig?“ Leben lebt nicht vom Kaufen. Leben lebt vom Schenken. Und ich will leben. Deshalb bin ich gespannt, was ich heute verschenken werde. Und vielleicht werde ich auch beschenkt.

Ulrich Beckwermert
Wort zum Tage, 31.08.2012, Deutschlandradio Kultur. In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Ulrich Beckwermert
In: Pfarrbriefservice.de