Disconnectedness oder die neue Unverbindlichkeit bei Terminen

Immer mehr Menschen leiden darunter, dass Verabredungen jeder Art – ob geschäftlich oder privat – immer unverbindlicher zu werden scheinen. Beispielsweise wird 20 Minuten vor einem seit Wochen feststehenden Termin abgesagt. Oder der Chef verlangt vom Mitarbeiter, 24 Stunden "stand by" zu sein. Ohne triftigen Grund. Die Urlaubsbuchung des Mitarbeiters muss storniert werden, kurz darauf wird der "wichtige" Termin wieder abgesagt, die Urlaubsreise mit Familie ist aber inzwischen ausgebucht und nun wird der Urlaub ganz gestrichen.

Für Seminaranbieter wird es langsam schwierig Hotels zu buchen, weil das Stornorisiko niemand mehr eingehen will. Entweder melden sich einen Tag vor Beginn plötzlich vier neue Teilnehmer an oder es wird zwei Tage vorher abgesagt. Aber nicht wegen einer Naturkatastrophe oder wegen Krankheit. Nein, weil die Planung es nicht anders zugelassen hat. Ein Paketzustelldienst gibt ohne Vorwarnung bekannt, dass seine Liefertreue um 24 Stunden "verlängert" wird. Zum Schaden der Buchhandlung, die gerade einen größeren Posten nur deshalb verkaufen konnte, weil sie einem Auftraggeber unter Zeitdruck eine pünktliche Lieferung zugesagt hatte.

Arbeitsverträge schrumpfen schon im Normalfall auf befristete Verträge von 1-2 Jahren zusammen. Davon können Zeitarbeiter wiederum nur träumen. "Nach ganz fest kommt ganz lose!" sagt der Segler gerne, um seine teuren Beschläge oder das laufende Gut zu schützen. Auf einem Segler muss immer alles "deutlich vor der Bruchlast" eingestellt sein, damit nichts kaputt geht, was wiederum lebensgefährlich wäre. Zieht man die Dinge zu fest, brechen sie in der Regel irgendwann, dann sind sie "lose". Zu Deutsch: kaputt.

Selbst unter guten Freunden werden Zusagen Minuten vor einem Ereignis abgesagt, sodass andere nicht mehr nachrücken können, die seit Wochen drauf warten, einen Platz zu bekommen. "Komm ich heut nicht, komm ich morgen!" Wird das gar nicht mehr als "vage" oder "unzuverlässig" gesehen, sondern als persönliche Entscheidungs"freiheit" missverstanden?

Auf diese Art der Freiheit folgt Einsamkeit

Hat hier womöglich eine ganze Gesellschaft den Freiheitsbegriff falsch interpretiert? Nach einer kurzen Phase des "Ich werde wohl alt, und früher war alles anders…!" hat der intensive Austausch mit Kollegen und Freunden bei mir zu der Einsicht geführt, dass es sich nicht um ein Phänomen des "Früher war alles besser!" handelt, sondern eine sich ausbreitende Unverbindlichkeits-Plage.

Denn auf diese Art der Freiheit folgt Einsamkeit und schließlich Handlungsunfähigkeit. Eine Form der sozialen Degeneration, wie ich meine. Auch könnte man sagen: einer gefährlichen Dekadenz.

Prof. Lippman beklagt zurecht in seinem Buch "Identität im Zeitalter des Chamäleons", dass uns die Institutionen, die uns früher durch das Jahr oder sogar durch das ganze Leben geleitet haben, wie Kirchen, regionale Bräuche etc. pp. zunehmend verlorenen gegangen sind. Wir haben erstens gesellschaftliche Zwänge abgelegt wie alte Jacken und das ist auch gut so.

Für den Einzelnen wird es trotz laufend steigendem Angebot dennoch immer schwieriger, seine Identität zu finden, sich also mit irgendetwas so zu identifizieren, dass es zu einer sinngebenden Instanz im eigenen Leben wird. In dieser Flut von Informationen wird es allmählich schwierig, so etwas wie Zugehörigkeit zu empfinden. Hier wird Individualität langsam zur Orientierungslosigkeit. Doch Zugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir brauchen unsere sozialen Netzwerke, unsere Community!

Freizeit ist nicht länger freie Zeit

Wir sind zwar alle mehr oder weniger gut beschäftigt. Ausgebucht im Beruf und ausgebucht in der "Freizeit". So sehr, dass von freier Zeit oft keine Rede mehr sein kann. Ein Bekannter von mir empfand bereits die komplette Durchstrukturierung seiner "Freizeit" mithilfe von Outlook als fundamentalen Fortschritt auf dem Weg zu einer befriedigenden Life-Work-Balance. Trotzdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er in den letzten Wochen, seitdem er nun 24 Stunden pro Tag durchgetaktet ist, gerade eben nicht irgendwie zufriedener oder ausgeglichener wirkt. Er befindet aber: Ich kann ja jederzeit wieder absagen, das sind doch nur Optionen!

Im Grunde ist er am Ursprung des Problems angelangt: Er kann für sich nur noch "freie Zeit" für Erholungszwecke reklamieren, indem er anderen gegenüber unzuverlässig wird oder sich selbst immer wieder einen Strich durch die eigene Planung macht.

Womöglich hätte er dann Zeit, tatsächlich wieder ohne Plan und Vorstrukturierung (was für eine schöne Vorstellung!) auf dem Sofa zu sitzen und Musik zu hören. Nicht, weil es Dienstag 18.45 Uhr ist, sondern weil er Lust dazu hat. Oder mit seinen Freunden live in einer Kneipe Doppelkopf zu spielen und das nicht am Laptop zu tun oder mit einer App, während er "simst", in der Bundesbahn sitzt und ein Fernstudium in Psychologie absolviert, um endlich zu sich zu kommen.

Quelle: www.projektmagazin.de, von: Heinz-Detlef Scheer, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Quelle: www.projektmagazin.de, Autor: Heinz-Detlef Scheer
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