Die vollkommene Freude

Die folgende Geschichte braucht eine Erläuterung. Franziskus und Leo waren Freunde. Ein Freund ist ja einer, dem man alles anvertrauen kann und der hinter den Worten, die man sich abringt, das sieht, was man eigentlich sagen will. Deswegen kann Franziskus hier auch sehr rätselhaft sprechen. Zumindest nach dem ersten Lesen ist man ratlos. Doch je mehr man sich hineindenkt, um so deutlicher wird: Hier redet Franziskus darüber, dass niemand zur Freude kommen kann, der darauf wartet, dass sich Erwartetes erfüllt. Eine solche Freude an äußeren Dingen ist vergänglich. Sie ist zudem davon abhängig, was gerade Mode ist und was einem alles eingeredet wird an Erstrebenswertes.

Ewig und damit fundamentgebend ist die Freude daran, dass man sich von seinem Willen zum Guten, zur Ruhe und zum Frieden nicht abbringen lässt. Man hat in dieser Freude Frieden, der sich durch ein konsequentes Handeln sich selbst und anderen gegenüber zeigt. Sie ist eine innerliche Freude, von der man im Normalfall nichts erzählt – außer man ist mal mit einem Freund unterwegs.

Eines Tages rief Franziskus seinen Freund, Bruder Leo, und sagte: "Bruder Leo, schreibe, was die vollkommene Freude ist. Stell dir vor: Es kommt ein Bote und sagt, dass Professoren der Theologie in unseren Orden eintreten.

Schreibe: Das ist nicht die wahre Freude.

Stell dir vor: Alle Mitarbeiter der Kirche, alle Erzbischöfe und Bischöfe, die Könige und Präsidenten, alle wollten in unseren eintreten. Schreibe: Das ist nicht die wahre Freude.

Stell dir vor: Meine Brüder wären so erfolgreich in ihrer Mission, dass sich alle Menschen zum Glauben bekehren. Schreib: Das ist nicht die wahre Freude!

Stell dir vor: Ich hätte von Gott eine solche große Gabe, dass ich Kranke heilen und Wunder wirken könnte. Ich sage dir, dass in all dem nicht die wahre Freude ist.

Da hielt Bruder Leo inne mit dem Schreiben und fragte Franziksus: Was aber, Vater, ist dann die wahre Freude?

Franziskus antwortete ihm:

Stell dir vor: Ich kehre von Perugia zurück. Es ist tiefe Nacht und tiefster Winter. An meinem Habit gefriert das Wasser zu Eis. Es schlägt gegen die Schienbeine, sodass sie ganz blutig werden. Schmutzig und völlig entkräftet komme ich zur Pforte des Klosters unserer Brüder. Lange öffnet keiner. Dann, nachdem ich lange geklopft und gerufen habe, kommt der Pförtner und fragt mürrisch: Wer ist da?

Stell dir vor: Ich antworte: Bruder Franziskus. Und er sagt: Geh fort! Das glaub ich dir nicht. Wer geht schon um diese Zeit vor die Tür? Du kommst nicht herein.

Stell dir vor: Ich lasse mich nicht abwimmeln. Ich dränge auf Einlass. Doch der gute Bruder antwortet: Hau ab! Weißt du, was du bist: Ein einfältiger und ungebildeter Mensch. Du kommst auf keinen Fall zu uns. Wir haben schon genug von deiner Sorte.

Stell dir vor: Ich bleibe trotzdem stehen. Ich flehe ihn an: Um der Liebe Gottes willen, nehmt mich auf in dieser Nacht. Und der Mitbruder antwortet: Wir werden das auf keinen Fall tun. Geh zur Niederlassung der Mönche vom Heiligen Kreuz. Versuch da dein Glück.

Stell dir vor, mein Bruder: Wenn ich bei all dem Geduld bewahre, mich nicht errege: Darin ist die vollkommene Freude, die wahre Tugend, ja, darin findet die Seele ihre vollkommene Heilung.

Aus der franziskanischen Überlieferung mit einem Vorwort von Bruder Paulus Terwitte
aus: Kraft-Räume – Gedanken und Gebete für Männer. Von Martin Rosowski und Andreas Ruffing (Hg.), 160 Seiten, März 2006, Butzon & Bercker, ISBN 3-7666-0748-0, 12,90 Euro

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Das Schwerpunktthema für Oktober 2007

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Text: Bruder Paulus Terwitte
In: Pfarrbriefservice.de