Die Kraft der Brachzeit erfahren

oder: Von der Kunst des Geniessens

O Seele, suche dich in Mir,
und, Seele, suche Mich in dir...
Du bist mein Haus und meine Bleibe,
bist meine Heimat für und für;
Ich klopfe stets an deine Tür,
dass dich kein Trachten von Mir treibe.
Und meinst du, Ich sei fern von hier,
dann ruf Mich, und du wirst erfassen,
dass ich dich keinen Schritt verlassen:
und Seele, such Mich in dir.

Teresa von Avila

Dieser Ausschnitt aus einem der zentralen Gebete von Teresa von Avila ist für mich eine der tiefsinnigsten Ermutigungen, mir und anderen Ferienzeit zu gönnen. Denn mein Wert entspringt aus meinem Sein. Darum lässt Teresa Gott selber jedem Menschen zusprechen: «Du bist mein Haus und meine Bleibe, bist meine Heimat für und für.» Vor allen Ansprüchen gilt mir und jedem Menschen dieser Zuspruch. Der Sabbat, die Sonntagskultur, die Ferien- und Brachzeit feiern diese grundlegende Sehnsucht jedes Menschen: angenommen zu sein vor aller Leistung.

Das Leben ist Geschenk

Die Schöpfung ist der vordringliche Ort, wo dieser Geschenkcharakter des Lebens tief eingeatmet werden kann. Dazu braucht es die Gabe des Schweigens, den Widerstand, nicht auch noch meine Ferien verkonsumieren zu lassen und mir Stunden des Innehaltens zu gönnen. Nicht aus Weltverneinung, sondern durch intensives Geniessen des «Gut-Seins aller Dinge», wie dies der Mystiker und Dichtermönch Thomas Merton beschreibt:

«Ich will mich also aufmachen und die Gabe des Schweigens, der Armut und der Einsamkeit suchen, damit sich alles, was ich berühre, in Gebet verwandelt, damit der Himmel mein Gebet ist, damit die Vögel mein Gebet sind, damit der Wind in den Bäumen mein Gebet ist. Gott ist alles in allem... Je mehr ich in die Einsamkeit eindringe, desto klarer gewahre ich das Gut-Sein aller Dinge. Um glücklich in der Einsamkeit leben zu können, benötige ich das barmherzige Erkennen des Gut-Seins der ganzen Schöpfung und ein demütiges Erkennen des Gut-Seins meines Leibes und meiner Seele. Wie vermöchte ich wohl in der Einsamkeit zu leben, wenn ich nicht überall das Gut-Sein Gottes, meines Schöpfers und Erlösers und des Vaters alles Guten erblickte?»

Einfach da sein können

Uns tut eine Kultur des Daseins Not, wo wir das Leben mehr geniessen können. Vertrauend, dass durch mein achtsames Dasein sich alles in Gebet verwandelt. Dies wird möglich, wenn ich während meiner Ferienzeit im Zusammensein mit der Familie, dem Freundeskreis mir täglich mindestens eine Stunde gönne, wo ich allein dasitze oder -liege, um all das Erlebte der letzten Wochen verinnerlichen zu können. Meine Seele braucht Entfaltungsräume, wo ich all die vielen Erfahrungen, die mich beleben und behindern, vertiefen kann. Vertrauend, dass ich Gottes Haus und Bleibe bin, kann ich einüben, mich im «eigenen Haus zurechtzufinden» (Teresa von Avila). Dabei braucht es keine neuen Bilder und Worte, sondern ich kann in ganz alltäglichen Erlebnissen, die mir in dieser Brachzeit in den Sinn kommen, das Wesentliche, das Wunderbare, den Geschenkcharakter des Lebens erahnen.

Staunen können

Zu Recht beschreibt Dorothee Sölle das Staunen als erste mystische Grundhaltung. Im Nichts-Tun ereignet sich höchste Aktivität, wenn ich im Ausruhen, Erholen, Geniessen das Staunen über das «Gut-Sein aller Dinge» bis in meine Zehenspitzen fliessen lasse.

Ein spiritueller Mensch staunt jeden Tag neu, als wäre es der erste Lebenstag. Kinder können uns dabei kraftvolle Lehrmeister/Lehrmeisterinnen sein. Staunen in der Erinnerung, wie trotz aller Widerwärtigkeiten, die Menschen einander und der Schöpfung antun können, Christus als innere Quelle spürbar ist in der Zärtlichkeit, der wohlwollenden Konfliktfähigkeit, im Geniessen vom Essen und Trinken, im kämpferischen Engagement, im Verweilen in der ganzen Schöpfung. In der Ferienzeit das Dasein und das Staunen neu als Lebenskraft kultivieren, um die Kraft der Brachzeit zu erfahren. Staunende Menschen sind verwurzelt in der Schöpfung. Sie wissen, dass die Schöpfung Brachzeit braucht, ihre Kräfte zurücknimmt, um sie danach mit geballter Energie zum Wohle der ganzen Gemeinschaft hervorspriessen lässt.

Sich neu verlieben

Im Staunen sich neu verlieben in das Leben, die Schöpfung und den Kosmos wird auch zu einem entsetzten Staunen führen. Je mehr ich die Kostbarkeit des Lebens neu entdecke, umso mehr wird mein Hunger und Durst nach Gerechtigkeit für alle Kreaturen wachsen.

Im echten Geniessen der Gaben der Schöpfung wächst die Kraft zu ökologischer Achtsamkeit und zur Förderung multikultureller Begegnungen. Diese verbindende Widerstandskraft lässt mitgestalten an menschlicheren Arbeitsbedingungen, die die Spirale der unendlichen Machbarkeit durchbrechen. Schritte der Solidarität werden möglich, wenn die Ferienzeit zur Zeit des Geniessens wird, weil Gottes Heimat in mir ist.

Pierre Stutz ist Priester, Autor, spiritueller Begleiter und lebt im «offenen Kloster» Abbaye de Fontaine-André, Neuchâtel.
Erstveröffentlichung in: Schweizerische Kirchenzeitung SKZ 167 (1999), S. 381 f. © SKZ

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Das Schwerpunktthema für Februar 2008

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Text: Pierre Stutz
In: Pfarrbriefservice.de