In der „Leere“ die „Fülle“ finden

Wie wir alte Muster aufbrechen und Raum für Neues schaffen

Man sagt, dass die ersten und die letzten Worte eines Menschen eine besondere Bedeutung haben. Im ältesten Evangelium lautet das erste von Jesus wörtlich überlieferte Wort: „Kehrt um!“ (Mk 1,15). Das Wort ist wie eine Fanfare, die immer wieder in unserem Leben erschallen wird. Frei übersetzt heißt es: „denkt um”, „denkt anders“, „denkt neu“, „denkt quer“, stellt die Dinge auch einmal auf den Kopf!“ Nicht nur die Bibel, sondern auch die Märchen zeigen uns immer wieder, wie dieser Weg der Umkehr, der inneren Auferstehung, der Heilung, der Rettung gegangen werden sollte und könnte.

Umkehr bedeutet neu denken

Wir kennen alle das Märchen von Schneewittchen. Wir erinnern uns: das Mädchen, das tot im gläsernen Sarg lag, weil ein vergifteter Apfel in seinem Hals stecken geblieben war. Wenn sieben Zwerge einen Sarg tragen, werden sie dies wohl im Gleichschritt tun, links, zwei, drei, vier, links … Aber da kam ja – Gott sei es gedankt – einer der Zwerge ins Stolpern. Es war der Anfang einer Kettenreaktion, an deren Ende die Heilung, die „Auferstehung“ im Heute erfolgte: Einer stolpert, bringt damit alle aus dem Tritt, aus dem „Trott“, sie wanken, der Sarg fällt hin, zerspringt, Schneewittchen fällt auf den Boden, durch den Aufprall fliegt der Apfel aus ihrem Hals, sie schlägt die Augen auf und ist geheilt. Eine wahrhaft märchenhafte Darstellung eines Beratungs- und Heilungsprozesses, der unser oft überholtes Alltagsdenken durchbrechen kann, bei dem am Anfang die Angst steht, der Widerstand, alte vertraute Wege, die „Trampelpfade“ zu verlassen. Heilung passiert dort, wo jemand stolpert, wankt, ins Nachdenken fällt, nicht dort, wo jemand einfach nur stur weitergeht.

Selbstreflexion statt vorschnelle Urteile

Jesus zeigt uns beispielhaft, wie unser Denkprozess, will er sich erneuern,  es schaffen muss, allzu vertraute Muster einmal zu unterbrechen, zu hinterfragen, zurück zu lassen, um sich Neuem, Ungewohntem zu öffnen, auch wenn es uns manchmal sonderbar vorkommen mag, wie etwa seine Prophezeiung, dass die „Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden“ (Matth. 19,29-30). Als er einmal von den Pharisäern gefragt wurde, ob die Ehebrecherin steinigen solle oder nicht, antwortet er eben nicht mit dem schnellen, vertrauten Muster: „Ja - Nein - Ja - Nein“. Seine Antwort ist viel grundsätzlicher, tiefer, wesentlicher, radikaler und hilfreicher: „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein!“ (Joh 8,7). Alle, die Jesus hier wirklich verstanden hatten, ließen ihre Steine fallen, weil sie über sich selbst und ihre eigene Schuldgefühle ehrlich nachgedacht, Vergebungsbereitschaft und Mitgefühl zeigten, jene Gaben, die Gott uns immer wieder schenkt und auch von uns erwartet, dass wir sie an andere weiterschenken. Diese radikale Denkweise Jesu ist es, die Paulus später die „Erneuerung unseres Denkens“, die „Nichtanpassung an diese Welt“ nennt, „damit wir durch Prüfung (Selbstreflexion) erkennen können, was der Wille Gottes ist: was gut und wohlgefällig und vollkommen ist“ (Röm 12,2).

Denkimpuls: Wo in meinem Leben bin ich festgefahren?

Mut zur Leere – Raum für Neues

Wir begegnen in unserem Alltag immer wieder ähnlichen Situationen, wenn von uns die Fähigkeit einer inneren „Transformation“, einer Umwandlung erwartet wird, jener dynamische, individuelle Prozess der Bewusstseinserweiterung, bei dem wir uns alte Ansichten über uns selbst kritisch bewusst machen und entscheiden müssen, neue Ansichten in unser „Selbst“ zu integrieren, eine Grundvoraussetzung für jedes notwendige Wachsen und jeden wirklichen Fortschritt unseres Selbst.

Wir sind bei diesem Prozess eingebettet in der Erfahrung mit unserer Natur, die bei der Entstehung einer Tropfsteinhöhle ähnliche Prozesse verwendet. Zuerst muss Altes abgetragen, eine Höhle ausgewaschen werden, es muss eine Leere geschaffen werden, um dann wieder Tropfen für Tropfen etwas Neues, eine neue Steinlandschaft entstehen zu lassen. Auch in unserem Leben muss einiges immer wieder leer werden, wenn wir das Leben in Fülle leben und erleben wollen.  Wer Jesu Botschaft von der „Umkehr“ vor Augen hat, der findet auch den Mut, umzukehren, der scheut nicht das Risiko, die vertraute Richtung zu ändern.

Denkimpuls: Welche alten Gewohnheiten hindern mich daran, Raum für Neues zu schaffen?

Wurzeln und Freiheit

Loslassen geht nur, wenn wir einen festen Halt im Leben haben – einen inneren Anker, der uns trägt. Paul Zulehner spricht von der Balance zwischen Gottesverwurzelung und Menschenbefreiung: Wer in Gott verwurzelt ist, kann mutig voranschreiten, auch wenn er stolpert. Rückschläge gehören dazu. Wichtig ist, nicht aufzugeben, sondern geduldig und mutig dranzubleiben, trotz vieler Schwierigkeiten. Die nötige Zeit, die nötige Geduld und der nötige Mut werden uns dabei helfen. Nur so wachsen wir in unsere innere Stärke hinein und entdecken, wer wir wirklich sind. Der heilige Augustinus würde uns zustimmen, wenn er meint: „Ama et fac quod vis!“ – „Liebe und tue, was du willst!“

Handlungsimpuls: Nehmen Sie sich heute einen Moment der Stille. Überlegen Sie: Was könnte ich loslassen, um mehr Fülle zu erleben?

Stanislaus Klemm, Diplompsychologe und Diplomtheologe
 

Verknüpft mit:

Das Schwerpunktthema für April 2025

Vor dem Herunterladen:

Datei-Info:
Dateiformat: .rtf
Dateigröße: 0,02 MB

Sie dürfen den Text in sozialen Medien nutzen (z.B. Facebook, Instagram, YouTube, etc.)

Beispiel für den Urhebernachweis, den Sie führen müssen, wenn Sie den Text nutzen

Text: Stanislaus Klemm, Diplompsychologe und Diplomtheologe
In: Pfarrbriefservice.de