Der Friedhof lebt
An die Gänge zum Grab meiner Mutter erinnere ich mich noch heute sehr gut, auch wenn sie nun schon einige Jahrzehnte zurückliegen. Tag für Tag gingen wir mit unsrem Vater zu dem idyllisch gelegenen Waldfriedhof, richteten Blumen, sorgten für frisches Wasser, standen einige Minuten still im Gebet und trauerten jeder für sich um sie, die Mittelpunkt unserer Familie gewesen war. Zurück gingen wir meist schweigend.
Entsprechend fremd, aber zugleich faszinierend finde ich die bunte, fröhliche Art und Weise, in der die Mexikaner mit ihren Verstorbenen leben. In den ersten Novembertagen, vor allem zum Dia de muertos, dem mexikanischen Allerseelen, feiert man im ganzen Land den Glauben, dass die Toten zurückkehren und ihre Familien besuchen. Auf den Friedhöfen tobt vielstimmiges, farbiges Leben: Chorgesang aus der nahen Kirche mischt sich mit Drehorgelliedern und Beatmusik. Verkäufer streifen über die Wege, Touristen suchen folkloristische Motive, Jugendliche veranstalten Partys, Kinder spielen auf Grabsteinen. Angehörige mit langen Zöpfen und hellen Hüten sitzen auf Klappstühlen neben den Grabsteinen, um den Verstorbenen bei ihrem kurzen Besuch nahe zu sein.
Die meisten bleiben die ganze Nacht dort sitzen, zwischen üppigen Blumensträußen, in leuchtendem Kerzenschein und dichten Weihrauchschwaden. Sie trinken Tee, essen die Lieblingsspeise ihrer Verstorbenen, dazu Zuckerwatte in Pink und Blau, Totenköpfe aus Schokolade oder Pan de muertos, süßliches Totenbrot. Denn: der Tod ist süß. Sie philosophieren mit Kindern und Enkelkindern über Leben und Tod. Sie feiern ihre große Fiesta als Protest gegen die Vergänglichkeit.
Welten trennen diesen Dia de muertos von unseren besinnlichen, herbstlich melancholischen Friedhofsritualen. Wir haben nicht die mexikanische Mentalität, nicht die Mischung aus indianischer Tradition und katholischem Glauben. Aber statt der weit verbreiteten Verdrängung wünschte ich auch uns etwas mehr von der natürlichen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit der Mexikaner beim Umgang mit dem Tod.
Hinrich C. G. Westphal
aus: Magazin Andere Zeiten 3/07, www.anderezeiten.de
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Text: Hinrich C. G. WestphalIn: Pfarrbriefservice.de