Der Augenblick ist das Tor zur Ewigkeit
Es gibt Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint, und ich die ganze Tiefe meiner Existenz spüre. Solche Augenblicke könnte man als das „Tor zur Ewigkeit“ bezeichnen. Doch was bedeutet das? Und wie kann ich in meinem oft eng getakteten Alltag solche Augenblicke erleben und wertschätzen?
Der Augenblick: Wo Zeit und Ewigkeit sich begegnen
Der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard beschreibt den Augenblick als einen besonders wichtigen Moment, in dem alles zusammenkommt. Es ist der Punkt, an dem das Ewige im Zeitlichen gegenwärtig wird. Etwas, das immer und unveränderlich ist, wird in unserer alltäglichen, sich ständig verändernden Welt greifbar und erlebbar. Normalerweise denken wir bei Zeit an etwas, das vergeht, und bei Ewigkeit an etwas, das immer bleibt. Im Augenblick jedoch kommen diese beiden Konzepte zusammen. Es ist wie eine Brücke, die die endliche, vergängliche Welt mit der unendlichen, ewigen Welt verbindet.
Ein solcher Augenblick kann in ganz alltäglichen Situationen aufscheinen. Ich laufe mit meinem Hund bei Sonnenaufgang über einen Hügel, die Farben des Himmels wechseln von Dunkelblau zu einem warmen Rosa. Für einen Moment bleibe ich stehen, bin vollkommen still, und nehme den Anblick bewusst wahr. Es scheint, als würde die Zeit stillstehen.
Kierkegaards Sprung des Glaubens im Alltag
Für Kierkegaard hat der Augenblick auch eine stark religiöse Komponente, nämlich wenn man in einem Moment eine tiefere spirituelle Einsicht oder eine göttliche Offenbarung erfährt. Ein solcher „Sprung des Glaubens“, wie ihn Kierkegaard nennt, übersteigt das rationale Verstehen und bedeutet eine Begegnung mit dem Göttlichen.
Ich erinnere mich an eine schwierige Lebensphase, in der ich plötzlich Trost gefunden habe – nicht durch Worte oder Taten, sondern durch ein stilles Gebet. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Es war, als hätte ich für einen Augenblick die Ewigkeit gespürt, eine Verbindung zu etwas, das größer ist als ich selbst.
Achtsamkeit: Das Tor im Alltag öffnen
Moderne Konzepte der Achtsamkeitspraxis weisen Parallelen zu Kierkegaards Verständnis des Augenblicks auf. Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt bewusst zu sein und alles wahrzunehmen, was im Inneren und Äußeren geschieht, ohne zu bewerten oder zu urteilen. Eckhart Tolle, der Autor des Buchs „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“, argumentiert, dass wahres Leben nur im gegenwärtigen Moment stattfindet, und dass die Anklammerung an Vergangenheit und Zukunft eine Quelle von Leid darstellt. Er beschreibt den jetzigen Moment als die einzige Realität, die existiert. Ich verstehe das als Einladung, voll in diesem Moment präsent zu sein, um das Leben in seiner Fülle zu erfahren.
Im Alltag übe ich das, indem ich meinen morgendlichen Kaffee bewusst trinke. Ich spüre die Wärme der Tasse in meinen Händen, nehme den Duft wahr und schmecke den ersten Schluck ganz bewusst, als ob es der erste Schluck Kaffee meines Lebens wäre. Oder wenn ich mit meinem Kind spiele: Dann schaue ich ihm in die Augen, nehme sein Lächeln wahr und bin in diesem Moment ganz bei ihm – ohne an meine Aufgaben für den nächsten Tag zu denken.
Letzten Herbst war ich in der Rhön wandern. Der Weg führte mich über die Höhen der Langen Rhön mit einem fantastischen Ausblick über die umliegenden Täler. Da kam mir ein Wanderer entgegen. Im Vorbeigehen sprach er mich an: „Du hast in deiner Laufrichtung die schönere Aussicht.“ Ich antwortete: „Ja, stimmt, aber wenn du weiter nach oben kommst, da, wo ich herkomme, wirst du auch einen schönen Blick haben.“ Er hielt kurz inne und sagte: „Man muss es aufnehmen, das ist das Wichtigste.“ Dem konnte ich nur zustimmen: „Ja, das ist wahr.“ Wir wünschten uns einen schönen Tag und gingen weiter.
Der Augenblick als Chance zur Transformation
Ein Leben in Achtsamkeit bedeutet, den scheinbar flüchtigen Moment nicht nur als Teil einer linearen Zeitabfolge zu sehen, sondern als bedeutungsvollen Schnittpunkt zu erleben, in dem sich gewissermaßen die gesamte Existenz verdichtet. Der Augenblick wird somit zum „Tor zur Ewigkeit“, indem er das Ewige überhaupt erst spür- und erfahrbar macht.
Bei einer Wanderung in den Hohen Tauern kam ich an einem wilden Wasserfall vorbei. Ich blieb kurz stehen: Das tosende Rauschen des Wassers umhüllte mich, die kühle Gischt erfrischte mein Gesicht. In diesem Moment wurde mir klar, wie verbunden ich mit der Schöpfung bin. Es fühlte sich an, als würde ich für einen Augenblick aufwachen und die tiefere Wahrheit des Seins spüren.
In jedem Augenblick liegt die Möglichkeit, sich verwandeln zu lassen. So wie Kierkegaard den Augenblick als entscheidend für persönliche Umkehr und Erweckung zum wahren Sein sieht, fordert uns die Achtsamkeitspraxis auf, jeden Moment als neue Chance zum bewussten Erleben zu nutzen. Vielleicht liegt hierin auch das tiefere Geheimnis der österlichen Auferstehung.
Im Hier und Jetzt das Ewige finden
Indem ich einübe, im Hier und Jetzt zu leben und jeden Moment bewusst wahrzunehmen, bereichere ich nicht nur meinen Alltag, sondern finde auch eine tiefere Verbindung zu mir selbst und zum Göttlichen. Ob ich mit einem Freund spreche, der mich wirklich versteht, oder unter einem klaren Sternenhimmel stehe – überall steckt die Möglichkeit, das „Tor zur Ewigkeit“ zu erleben.
Vielleicht beginnt genau jetzt ein solcher Moment.
Christian Schmitt
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Text: Christian SchmittIn: Pfarrbriefservice.de