„Den Druck aufnehmen, ohne zu zerbrechen“

Resilienzforscher Martin Schneider über die Wirkung von Krisen auf den Einzelnen und die Gesellschaft

Das Prinzip der Resilienz findet inzwischen in vielen Bereichen Anwendung. Ob Psychologie, Wirtschaft oder Ökologie – alle setzen auf die Macht der Widerstandskraft. Was das Wort genau bedeutet, ob sich Resilienz lernen lässt und welche Rolle der Glaube spielt, darüber sprachen wir mit dem Theologen Martin Schneider.

Was bedeutet Resilienz?
Martin Schneider:
Das Wort stammt vom lateinischen resiliere, abprallen, zurückspringen. Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, an Widerständen nicht zu zerbrechen, sondern sich als widerstandsfähig zu erweisen. Dieses Prinzip wird in der Psychologie auf Menschen angewendet. Resiliente Menschen „zerbrechen“ nicht, sie lassen sich nicht unterkriegen. Sie haben eine gewisse Widerstandsfähigkeit, wenn sie sich in dramatischen Situationen befinden, wenn sie Krisen auszuhalten oder Schocks zu verkraften haben. Das gelingt ihnen, weil sie auf persönliche und soziale vermittelte Kraftquellen zurückgreifen können.
  
Kann man Resilienz lernen? Ist sie angeboren oder erworben?
Zum großen Teil kann man sie erwerben. Natürlich gibt es Menschen, die von sich aus robuster, widerstandsfähiger sind. Das kann „ererbt“ sein. Aber zum ganz großen Prozentsatz lässt sich Resilienz erlernen. Sie ist ein lebenslanger Prozess, keine statische Eigenschaft, kein Zustand, sondern ein Entwicklungsergebnis.

Wie wirkt sich der Glaube auf die Resilienz aus?
Ratgeberbücher übertreffen sich damit, Listen von Resilienzfaktoren vorzustellen. Mir als Theologe ist es wichtig, das kritisch anzuschauen. Denn Resilienz ist mehr als Selbstoptimierung und Krisenresistenz. Resilienz meint nicht Unverletzlichkeit, sondern das Glück gelingenden Lebens inmitten aller Verwundungen und Unvollkommenheiten. Fest steht, dass der Glaube Resilienz fördert. Dabei hat offensichtlich das Phänomen des Vertrauens eine zentrale Bedeutung. Gottvertrauen wird als Schlüssel für Krisenbewältigung verstanden und als Kraft erfahren, um Schweres durchzustehen. Nur wer der Tragfähigkeit des Bodens vertraut, kann auch aufbrechen und gehen. Weil wir uns von Gott getragen fühlen, können wir gelassen mit der Situation umgehen. Der entscheidende Faktor aber scheint zu sein – das haben empirische Untersuchungen zur Frage von Religion und Resilienz ergeben –, dass religiöse Menschen eher von Gemeinschaften aufgefangen werden. Nicht weil sie gläubig sind, sind sie resilienter, sondern weil die Glaubenspraxis immer auch mit der Einbindung in eine Glaubensgemeinschaft verbunden ist. Religiöse Menschen haben das Gefühl, nicht alleine vor der Herausforderung zu stehen, sondern auf die Unterstützung von anderen vertrauen zu können.

Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die Resilienz des Einzelnen und der Gesellschaft?
Die Krise bringt uns zum Nachdenken. Das Virus deckt schonungslos all die Widersprüche, Schwächen und Verwundbarkeiten auf, die wir im privaten, kirchlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Alltag nicht wahrhaben wollen oder können. Wir werden aus der Wohlfühlzone „vertrieben“ und müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir eigentlich leben wollen. Wie wichtig ist Gesundheit, welchen Preis sind wir dafür bereit zu bezahlen? Wie wichtig ist uns Zeit für die Familie, für den Partner oder die Partnerin, die Kinder, die älteren Menschen? Sauberes Wasser, reine Luft, eine intakte Natur um uns herum, was ist uns das wert? Sich diese Fragen zu stellen, ist ein erster Schritt in die Transformationsfähigkeit, also in die Fähigkeit zu grundlegenden Veränderungen.

Martin Schneider ist promovierter Theologe. Er forscht seit Jahren zu den theologischen und ethischen Dimensionen von Resilienz, unter anderem als Mitglied des inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekts ForChange. Er ist Lehrbeauftragter an der Katholischen Stiftungshochschule München und theologischer Grundsatzreferent des Diözesanrats der Katholiken der Erzdiözese München und Freising.

Christina Tangerding, www.erzbistum-muenchen.de, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Christina Tangerding, www.erzbistum-muenchen.de
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