„Apriori-Urteile verhindern Begegnungen. Doch Begegnungen können Urteile ändern.“

Erfahrungen eines Priesters mit einem jungen trans* Menschen

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu meinen Lieblingstexten aus dem Neuen Testament. Es zeigt mir: Neben der Bibel sind Alltagserfahrungen ausschlaggebend, wenn wir Gottes Willen erkennen möchten. Auf die Frage „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“, antwortet Jesus mit zwei Geboten des Alten Testaments: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Doch auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“ erzählt er eine Geschichte. Darin gibt ausgerechnet ein von Juden verhasster Samariter ein positives Beispiel dafür, wie Menschen anderen zum Nächsten werden können. Begegnungen können Offenbarungscharakter haben und Vorurteile korrigieren.

Als Pfarrer neu in einer ländlich geprägten Kleinstadt eingesetzt, erteilte ich Religionsunterricht in der 9. Klasse einer Hauptschule. Ich hatte dort zu sehr mit der Disziplin in der Klasse zu kämpfen, als dass ich mich einzelnen Schülern so hätte widmen können, wie es wünschenswert gewesen wäre. Ein Schüler fiel mir besonders auf, obwohl er sich nie zu Wort meldete und auch nicht störte. Er wirkte auf mich extrem unglücklich. Seine Haltung und Mimik konnte ich nicht anders deuten, als würde er sich dafür entschuldigen, dass er existierte. Er tat mir leid, aber ich kam nicht an ihn heran. In einem der darauffolgenden Jahre bekam er ein Geschwisterkind. Zum Taufgespräch besuchte ich die Familie. Es kam zu einer kurzen Begegnung und ich fragte ihn, ob er nicht bei der Unterhaltung dabei sein wolle. Er aber schlich wortlos an mir vorbei in sein Zimmer. Sein Vater gab statt seines Kindes zur Antwort: „Unser N. ist eigen. Er geht nicht unter Leute. Er will das nicht.“ Ich äußerte mein Bedauern. Zu einem Gespräch über die Ursache kam es nicht.

Wieder ein paar Jahre später, wieder bei einem Taufgespräch, erfuhr ich von einer ehemaligen Schülerin derselben Klasse, dass N. jetzt eine Frau sei. N. habe Kontakt zu ihren ehemaligen Mitschülerinnen, sie gingen miteinander shoppen und unternähmen andere Dinge gemeinsam. Sie sei jetzt locker drauf und glücklich.

Ich glaube: Wer immer ihn vorher erlebt hat, kann sich für sie nur freuen und die Geschlechtsumwandlung oder besser Angleichung nur gutheißen. Es kann für sie nur besser geworden sein, hoffentlich sogar gut. Wenn ein junger Mensch im ländlich kleinstädtischen Milieu aufgewachsen ist, wo es so etwas nicht zu geben scheint, und einen solchen Schritt tut – wie groß war dann sein Leidensdruck? Da sind nur Akzeptanz und Respekt ihm gegenüber angesagt. Das mag uns zunächst schwerfallen, weil es unser Bild von Gott und seiner Schöpfung durcheinanderbringt.

Wie können Seelsorger*innen Menschen in solchen Konfliktsituationen hilfreich begegnen? Die Kirche insgesamt sendet wohl eher negative Signale aus. Apriori-Urteile verhindern Begegnungen. Doch Begegnungen können Urteile ändern.

„Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ Ich glaube, diesen Satz des Dichters Erich Fried müssen wir uns in der Kirche immer wieder vor Augen halten. Wir sind nicht dazu berufen, alle Phänomene moralisch einzuordnen und zu beurteilen. Durch das eigene Versagen haben wir dazu auch die Berechtigung verloren. Wir müssen nicht zu allem eine feste Meinung haben. Wir sollten uns immer wieder prüfen: Geht es mir um Glück und Heil der Menschen oder darum, in meinen Prinzipien bestärkt zu sein?

Ein Priester
entnommen aus: Mirjam Gräve, Hendrik Johannemann, Mara Klein (Hg.): Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln. BONIFATIUS Verlag 2021, In: Pfarrbriefservice.de
(Unterüberschrift ergänzt durch Pfarrbriefservice.de)

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Text: Ein Priester, entnommen aus: Mirjam Gräve, Hendrik Johannemann, Mara Klein (Hg.): Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln. BONIFATIUS Verlag 2021, (Unterüberschrift ergänzt durch Pfarrbriefservice)
In: Pfarrbriefservice.de