Vergiftete Stimmung und kein Interesse, das Land nach vorne zu bringen

Dr. Claudio Kullmann berichtet im Interview vom Auftreten der AfD im Thüringer Landtag

Rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien zu wählen, ist häufig ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik. Doch was sind die Konsequenzen dieses Wahlverhaltens? Dr. Claudio Kullmann leitet das Katholische Büro in Erfurt und erlebt aus nächster Nähe das Auftreten der AfD im Thüringer Landtag. Dort gehören 19 von 90 Abgeordneten dieser Partei an. Laut Wahlumfragen könnte sie bei der nächsten Landtagswahl im September 2024 mit 29 Prozent die stärkste politische Kraft in Thüringen werden.

Herr Kullmann, wie erleben Sie die AfD im Thüringer Landtag?

Claudio Kullmann: Diese Partei benimmt sich nicht wie andere Parteien. Das ist ein zentraler Befund, leider nicht im positiven Sinne. Normalerweise versuchen Parteien, in irgendeiner Weise etwas positiv zu gestalten, das Land nach vorne zu bringen. Das ist bei der AfD anders. Die AfD ist eher eine destruktive politische Kraft im Landtag. Sie versucht, über Verfahren, Anträge und Wortbeiträge den parlamentarischen Betrieb nicht nur aufzuhalten, sondern auch Dinge auszubremsen, Entscheidungen zu verlangsamen und den Betrieb zu stören. Sie zeigt durch ihr Verhalten, dass ihr unsere demokratischen Verfahren und Institutionen nichts bedeuten. Das zeigt sich auch in Anhörungen, die ich in meinem Amt relativ häufig besuche. Die dauern oft viele Stunden. Während Politiker anderer Parteien Fragen stellen und sich am Gespräch beteiligen, sitzen Vertreter der AfD oft nur da und tragen nichts bei. Sie zeigen damit, dass es ihnen gar nicht um die Sache geht, sondern darum, das Parlament und seine Arbeit verächtlich zu machen. Das stört die Abläufe, die mit einer Minderheitsregierung sowieso schon schwierig genug sind.

Was beobachten Sie noch?

Claudio Kullmann: Die AfD verbreitet eine negative Grundstimmung. In einem Parlament ist es notwendig, dass sich die Abgeordneten zumindest ein bisschen vertrauen und einen positiven, menschlichen Umgang pflegen. Das funktioniert im Thüringer Landtag fast gar nicht mehr. Bei der Ministerpräsidentenwahl 2020, als die AfD den Tabubruch beging, ihren eigenen Kandidaten geschlossen nicht zu wählen, ging ganz viel Vertrauen verloren. Das merkt man bis heute. Diese negative Stimmung und die Anfeindungen gegen Politikerinnen und Politiker brachten eine ganze Reihe von Abgeordneten der anderen Parteien dazu, nicht mehr zu kandidieren. Auch wenn man in der Politik ein dickeres Fell haben muss, ist für meine Wahrnehmung der Krankenstand unter den Abgeordneten inakzeptabel hoch. Das hat sicher mit der vergifteten Stimmung zu tun und das ist wesentlich der AfD anzulasten.

Trotzdem kommt die Partei bei den Wählern an. Der AfD-Politiker Robert Sesselmann wurde mit fast 53 Prozent 2023 zum Landrat des Kreises Sonneberg gewählt. In Wahlumfragen liegt die AfD bei 30 Prozent, obwohl gerade dieser Landesverband als gesichert rechtsextremistisch gilt. Wie erklären Sie sich die hohen Zustimmungswerte für die AfD in Thüringen?

Claudio Kullmann: Die Zustimmungswerte sind nicht nur in Thüringen hoch. Das Problem besteht mittlerweile bundesweit und ist kein rein ostdeutsches Phänomen. Aber Sie haben Recht. Die Zustimmungswerte für die AfD sind in Thüringen schon länger auf einem hohen Niveau von etwa einem Drittel, in Sachsen sogar noch darüber liegend. Im Osten Deutschlands kommen möglicherweise spezifische Momente dazu. Hierzulande befinden wir uns immer noch in einer Situation, wo die Wiedervereinigung und die Transformation des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systems verarbeitet werden. Wir erleben, dass sich die Brüche in den Biographien auch bei der nachfolgenden Generation sehr stark auswirken. Viele Menschen hier reagieren deshalb besonders sensibel auf Veränderungsprozesse, weil sich ihr Leben seit der Wiedervereinigung mehrmals um die eigene Achse gedreht hat. Da gab es keine Gewissheiten mehr. Man wusste überhaupt nicht, wie es in ein paar Monaten weitergehen wird, und das häufig in einer Lebensphase, wo man eigentlich etabliert ist. Das Gefühl einer Grundsicherheit, wie das Leben verlaufen wird, ist bei vielen einfach zerbrechlicher. Dadurch werden Veränderungen, denke ich, gravierender wahrgenommen als in Westdeutschland. Und wir haben aktuell große gesellschaftliche Veränderungen, die es zu verarbeiten gilt.

Was sind Ihre Befürchtungen, sollte die AfD bei der Landtagswahl in Thüringen die Größe einer Sperrminorität gewinnen oder sogar in Regierungsverantwortung kommen?

Claudio Kullmann: Es gibt in Thüringen zwei Befürchtungen. Die eine hat mit der AfD zu tun, nämlich dass diese Partei durch das Wahlergebnis noch mehr Möglichkeiten gewinnt, das politische System zu beeinflussen. Wir haben hier in Thüringen ja auch Kommunalwahlen. Mehr AfD-Mandatsträger in den Kreistagen und Gemeinderäten bedeuten, dass sich bestimmte Stimmungen, auch bestimmte Begrifflichkeiten und Sichtweisen noch stärker vor Ort verankern. Im Landtag hätte die AfD, wenn sie ein Drittel der Abgeordneten stellen würde, sehr viel mehr Möglichkeiten, Entscheidungen und Wahlen zu blockieren, auch bei Richtern. Der stärksten Fraktion steht zum Beispiel auch das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten zu. Dieses bei einem Wahlerfolg der AfD zu verhindern, benötigt wieder Verfahren, die dazu führen, dass sich die AfD als Opfer gerieren kann. Das sind alles Sachen, die nicht helfen, dem demokratischen System in der Bevölkerung Respekt zu verschaffen. Die andere Befürchtung hat mit der allgemeinen politischen Gemengelage in Thüringen zu tun, die darauf hinauslaufen wird, dass es wahrscheinlich wieder keine stabile Mehrheit geben wird. Das bedeutet zum Beispiel für uns als Kirche, dass der Fortbestand vieler wichtiger Projekte noch unsicherer und aufwändiger wird.

AfD-Wähler und -Funktionsträger gibt es auch in den Pfarreien. Was nehmen Sie da wahr?

Claudio Kullmann: Die klare Positionierung der Bischöfe vom Frühjahr 2024 mit ihrer Erklärung ‚Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar‘ hat hier sehr geholfen. Sie hat dazu angeregt, auch in den Pfarreien die Verhältnisse ein Stück weit zu klären und dem Thema Demokratie und ihrer Gefährdung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ich erlebe es bei Gemeindeabenden, dass jetzt mehr Menschen aufstehen und für Demokratie und für die christliche Haltung in Fragen von Migration und Umweltschutz Partei ergreifen. Früher erlebte ich da mehr Zurückhaltung und Schweigen. Die Aufgabe ist jetzt allerdings, dass wir regeln müssen, was diese klare Positionierung konkret bedeutet, zum Beispiel in Bezug auf anstehende Gremienwahlen. Extremistische Positionen haben hier nichts verloren.

Wie ist die Stimmung in den Pfarreien?

Claudio Kullmann: Die Pfarreien sind ja keine sozialen Gebilde, wo es nur um Politik geht. Das Leben ist vielfältiger. Aber klar, die Menschen kommen mit ihren verschiedenen Sorgen und Ansichten. Aus meiner Sicht ist da die wesentliche Aufgabe der Pfarrei, dass die Menschen beieinander bleiben. Dass man das Interesse an Menschen, die anders denken, wachhält und dass man den Austausch pflegt. Das ist vielleicht auch etwas, was wir in Corona-Zeiten verlernt haben. Denn das ist die große Stärke unserer Kirchengemeinden, dass in der Kirchenbank Menschen zusammen kommen, die sonst nichts miteinander zu tun hätten. Brückenbauen in die verschiedenen Milieus unserer Gesellschaft – das ist das Pfund, das wir haben und noch viel stärker nutzen müssten. Ich würde das Kirchen-Café zur Pflicht machen, so dass man nach dem Gottesdienst nicht gleich wieder nach Hause geht, sondern zusammensteht und ins Gespräch kommt. Das fehlt in der Gesellschaft und das müssten vielleicht gerade wir als Kirche einbringen.

Interview: Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Elfriede Klauer
In: Pfarrbriefservice.de