Von der Arbeits- zur Tätigkeitsgesellschaft - Visionen für die Zukunft

... in fünfundzwanzig Jahren:

Sara Lehmann, 38 Jahre alt, wird am 2. Juli 2030 nach einer einjährigen Unterbrechung wegen der Geburt ihres 3. Kindes ihren Job als Wasser-Managerin bei der Rheinischen Aqua-Gesellschaft in der Zweigstelle in Hückelhoven wieder aufnehmen. Ihre Arbeitszeit von 25 Stunden wird sie auf 3 bis 4 Tage verteilen. Die kleine Melanie kann sie ganz gut in dem Kindergarten des Gründer- und Service-Zentrums Hückelhoven unterbringen, der vor 15 Jahren von den dort ansässigen Dienstleistungsunternehmen gemeinsam mit der evangelischen und katholischen Gemeinde und dem Moscheeverein als Modellprojekt einer arbeitsplatznahen und interkulturellen Kindererziehung aufgebaut wurde.

Robin, der Mann von Sara, wird nun seine JOB-Tätigkeit als Maler- und Anstreicher bei einem mittelständischen Baudienstleister von den üblichen 28 Wochenstunden auf 15 Stunden reduzieren, damit er mehr Zeit für die beiden älteren Kinder und die pflegebedürftigen Eltern hat. Und diese Umstellung ermöglicht ihm, seiner Lieblingstätigkeit - dem "Garten- und Biotop-Design " - wieder stärker nachzugehen. Er ist nämlich im Kreis Heinsberg bis in den Gladbacher Raum ein geschätzter Ratgeber und Gestalter von privaten und öffentlichen Gartenanlagen. Er hat schon eine Reihe von neuen Ideen im Kopf, die er in seinem Netzwerk der Grün-Designer in den letzten Monaten ausgebrütet hat. Er rechnet mit einigen guten Aufträgen, so dass das Familieneinkommen in der Waage bleiben wird: Sara wird nun wieder mehr verdienen, bei Robin kommt in seinem Maler-Job allerdings einiges weniger rein, dafür kann er mit Einnahmen aus seiner selbstständigen Berufstätigkeit rechnen. Und die eigenen Eltern brauchen sie auch nicht mehr zu unterstützen, nachdem die Grundrente nun entscheidend angehoben worden ist - und zwar nach langen politischen Auseinandersetzungen um die entsprechende EU-Sozialrichtlinie von 2020, die das Ziel hatte, Altersarmut endlich auszumerzen, welche noch immer eine Folge der langen Zeit der Massenarbeitslosigkeit zwischen 1980 und 2015 ist.

Sara wird nun ihre Arbeit in der kleinen Clown-Agentur zurückfahren und weniger Auftritte machen, damit sie für den stressigen Management-Job mehr Kraft hat, der eben doch die Haupteinnahmequelle dann sein wird. Auf jeden Fall werden Sara und Robin ihr Engagement in dem internationalen Partnerschafts- und Solidaritätsprojekt des Christlichen Netzwerkes für Menschenwürde und Arbeit beibehalten, welches bereits in 2012 von der KAB im Bistum Aachen mit vielen anderen initiiert worden ist und heute großes Ansehen im EU-Parlament genießt.

Nach dem Sommer steht auch der Einstieg der nun 15-jährigen Zwillinge in das noch junge EU-Bildungsprogramm „drei-spurig in die Zukunft" an: Schule und Berufsausbildung sowie freiwillige soziale Projektarbeit werden hier bis zum 20. Lebensjahr kombiniert. So werden die jungen Leute mit Anfang 20 eine abgeschlossene praktische Ausbildung, ihre Hochschulreife und bereits Arbeitserfahrung wie auch viel soziale Praxis vorweisen können. Doch das ist erst in fünf Jahren, bis dahin gibt es noch viel zu leben und zu tun …

10 Thesen für eine Tätigkeitsgesellschaft:

1. 2005 - Nach 30 Jahren Massenarbeitslosigkeit in Deutschland: Die betroffenen Menschen haben nicht genug (Lebens-)Zeit, um auf die gebetsmühlenartig wiederkehrenden Versprechungen zu warten, möglichst freie Märkte würden das Problem in Zukunft lösen.

2. 2005 - Nach 30 Jahren Massenarbeitslosigkeit in Europa: Arbeitslosigkeit und die Angst vor ihr beschädigen das Leben und die menschliche Würde der Betroffenen und ihrer Familien; die Arbeitslosigkeit und die Angst vor ihr entstellen Stadtviertel und Dörfer, sie zerfressen vielfach das Zusammenleben und -arbeiten in den Betrieben.

3. 2005 - Nach 30 Jahren wachsender Massenarbeitslosigkeit weltweit: Hoffnungslosigkeit, alltägliche Angst, starke Machtverschiebungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite und falsche Schuldzuschreibungen verhindern eine Politik, die sich dem Problem ehrlich stellt.

4. Die Herausforderung der Zukunft ist recht einfach - und deshalb vielleicht so schwer, weil es eine großartige Aufgabe der Veränderung ist:

Wir brauchen nicht mehr so viel Erwerbsarbeit
wie vor 10, 20, 30 oder gar 50 Jahren!

Die hohe Produktivität bei langsamem, aber doch stetigem Wirtschaftswachstum ermöglicht den Weg zu einer anderen Rolle und Bedeutung der Erwerbsarbeit in unseren reichen Gesellschaften und reifen Volkswirtschaften.

5. Das Problem: Es fehlt eine neue soziale Ordnungspolitik, die sich dieser epochalen Herausforderung stellt. Ohne Werte, ohne Ziele und ohne Visionen von einem guten Leben kann man und frau keine vernünftige Politik machen.

6. Die Neue Arbeit, die neue Arbeitswelt ist längst dabei zu entstehen.
Erwerbsarbeit schwindet mehr und mehr in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung. Selbstbestimmte berufliche Tätigkeit wird neu entstehen und viel Fantasie frei setzen. Eigenarbeit, Selbstversorgung und freiwillige soziale Tätigkeit bilden eine dritte Komponente, ohne die viele, viele Menschen nicht leben möchten und ohne die unsere Gesellschaft öde und kalt würde.

Eine offene Frage ist: Wie werden diese drei Formen der Tätigkeit verteilt sein? Wird jeder und jede den Zugang zu diesen Tätigkeiten und einer reichen Lebensweise haben können? Oder werden sich die Arbeiten, Jobs und Tätigkeiten und die damit verschiedenen gesellschaftlichen Rollen sehr ungleich verteilen? Und wird sich damit die Gesellschaft weiter spalten - in sich zu Tode arbeitende Job-Leute und Langzeitarbeitslose ohne Perspektiven, in verarmte Menschen allenfalls mit kleinen schlechten Jobs einerseits und in reiche Frauen, Männer und Kinder andererseits, denen eine große Auswahl von Lebenschancen zur Verfügung steht? Wird sich der Trend zur sozialen Spaltung in Armuts- und Reichtumszonen fortsetzen?

7. Die Tätigkeitsgesellschaft meint den menschlichen, den sozialen Weg in diese Zukunft der Neuen Arbeit. Sie wird nur gelingen, wenn wir ordnungspolitisch dafür Raum schaffen und ihr durch entsprechende Initiativen und Förderprogramme den Weg bereiten. Vier Grundrechten will ich dabei Vorrang geben:

- dem Recht auf Arbeit (in ihren verschiedenen Formen)
- dem Recht auf Einkommen und soziale Sicherheit
- dem Recht auf politische Beteiligung und soziale Verantwortung
- dem Recht auf gute Experimente für das eigene Leben: Arbeit, die ich wirklich tun will, die sinnvoll ist. (Freiheit im sozialen Kontext)

8. Die Einkommensquellen in der Tätigkeitsgesellschaft werden für die meisten Menschen viel differenzierter sein als heute. Das entspricht sowohl der Freiheit des Individuums als auch der sozialen Aufgabe des Staates und der Tarifpartner. Die Welt der Neuen Arbeit kennt drei bis fünf Einkommensarten, die bei jedem Menschen auch vorhanden sein werden. Getragen wird diese flexible Einkommensstruktur durch eine gesetzlich garantierte Mindestsicherung.

Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums wird politisch mehr Gewicht haben als heute. Überzogen hohe Einkommen und private Vermögensanhäufungen werden unwichtiger werden, weil immer mehr Menschen ihren Lebenssinn über die verschiedenen Tätigkeiten finden werden als über Geldvermögen oder verschwenderischen Luxuskonsum.

9. Die Gestaltung der Tätigkeitsgesellschaft fängt heute an oder sie wird nicht sein.
Jede und jeder von uns kann heute und morgen damit anfangen. Das Erste wird sein, dass wir in uns hineinhören und dass wir darüber sprechen, was wir wirklich gerne arbeiten wollen und was für uns ein gutes Leben ist.

Wir können dann in der Familie, im Betrieb, im Stadtviertel in kleinen Schritten beginnen, erste Schritte zu wagen - anders zu arbeiten zu leben. Jugendliche, Frauen, Senioren und Arbeitslose sind vielleicht besonders berufen, mit der Zukunft hier und jetzt den Anfang zu machen.

Unverzichtbar allerdings ist ein Politikwechsel - hin zu einer ganzheitlichen Sicht und einer Politik der menschenwürdigen Arbeit. Wir brauchen eine Politik mit Weitsicht und eine, die sich gegen die Gefahr der um sich greifenden radikalen kapitalistischen Ideologie entschlossen stellt und die Menschenrechte der Arbeitenden und Arbeitslosen schützt.

10. „Ein Volk ohne Vision geht zugrunde...
Und wenn die herrschenden Politiker/innen keine Visionen mehr zum Stoff des Politischen machen, dann müssen wir uns andere suchen, selbst welche werden und die Herrschenden von unten anschieben und in Bewegung bringen.

Leo Jansen
Geschäftsführer des Nell-Breuning-Hauses (NBH), Bildung und Beratung, Lernort für Arbeit und Menschenwürde, Wiesenstraße 17, 52134 Herzogenrath, www.nbh.de
Das NBH engagiert sich in den Themenfeldern Zukunft der Arbeit und Pastoral der Arbeit.

Verknüpft mit:

Das Schwerpunktthema für Mai 2010

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Text: Leo Jansen
In: Pfarrbriefservice.de