Keine Nähe ohne Distanz

Kolumne: Zwischenmenschliches

Jeder von uns kennt ihn: den Wunsch nach Nähe, Geborgenheit und Wärme. Jeder kennt aber auch das andere Gefühl: den Drang nach Freiheit, das Bedürfnis, genügend Platz zu haben, sich nicht eingeengt oder bedrängt zu fühlen, „frei atmen“ zu können. 

Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat einmal zu diesem Problembereich Nähe – Distanz eine kleine, entzückende Geschichte geschrieben. An einem kalten Tag soll eine Gruppe Stachelschweine ganz intensiv das Bedürfnis nach Wärme gespürt haben. Sie suchten also die gegenseitige Nähe zueinander. Aber je näher sie einander rückten, desto stärker spürten sie die Schmerzen der Stacheln ihres Gegenübers. Schließlich veränderten sie den Abstand zueinander so, bis der wärmende Kontakt den Schmerz der Stacheln gerade noch erträglich machte. 

Die Stachelschweine können die Menschen repräsentieren mit ihrem Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft. Gleichzeitig stoßen nicht selten schlechte Eigenschaften ab. In diesem Spannungsfeld wird dann durch Gebote von Höflichkeit und Anstand ein gewisses Gleichgewicht hergestellt. So wird das Bedürfnis nach Nähe (Wärme) nicht vollends, sondern nur so weit befriedigt, dass der Vorteil den damit zwingend verbundenen Nachteil (Stacheln) noch wettmachen kann. Es geht darum, einen „gesunden Abstand“ zu wahren, denn je näher man sich kommt, umso mehr unangenehme Eigenschaften kommen oft zum Vorschein. Trotzdem ist immer ein einsamer Lebensweg möglichst zu vermeiden. Das ist eine wahre Kunst!

Sich öffnen – sich verschließen

Auch in der Biologie stoßen wir auf diese kunstvolle Eigenschaft. Jede unserer Zellen hat sowohl die Fähigkeit, sich zu öffnen, als auch die Fähigkeit, sich wieder zu verschließen. In der Evolution des Lebens hat die Natur wohl am längsten und intensivsten daran gearbeitet, eine Zellwand zu konstruieren, die die wirklich kunstvolle Fähigkeit besitzt, sich nur in ganz bestimmten Situationen nach außen hin zu öffnen und in anderen Situationen sich nach innen wieder zu verschließen. Erst als sie diese sehr differenzierte Fähigkeit erreicht hatte, geriet die Evolution des Lebens richtig „in Fahrt“. Dieses „sich öffnen“ und „sich wieder verschließen“ sind also zwei uralte Fähigkeiten, die gewissermaßen mit dem Leben selbst entstanden sind, ja, sie haben Leben überhaupt erst ermöglicht. 

Es klingt beinahe paradox, aber es ist die Wahrheit, wenn wir Sätze hören wie: „Man kann sich in der Ferne nah sein und in der Nähe fern“, so Klaus Ender. „Die größte Distanz schafft die Distanzlosigkeit“, sagt Arthur F. Burns. „Liebe ist wie eine Rose: Sobald man sie zu fest hält, verletzen die Dornen“, warnt Andrea Redmann. Oft merkt man dies erst im Abstand, denn „man ist immer zu weit gegangen, wenn man jemandem zu nahe getreten ist“, meint Elmar Kupke. 

Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe, In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Stanislaus Klemm, Dipl. Psychologe und Theologe
In: Pfarrbriefservice.de